Schwärmen alle
Dichter mit der
Natur? Wenn man
die Zahl der
Naturgedichte in
Anthologien
betrachtet oder
an die
Landschaftsbeschreibungen
in Romanen denkt
– erinnern Sie
sich an die
Seiten, die Sie
als junger Leser
oft schnell
umschlugen –
gibt es
literarische
Idyllen im
Überfluss. Die
Kniefälle großer
Dichter sind
überdeutlich.
Vondel: 'Het
schone van
natuur overtreft
toch alle
kunst.' ['Das
Schöne der Natur
übertrifft doch
alle Kunst.']
Shakespeare: 'Thou,
nature, art my
goddess'. Und
Goethe: 'Wie
herrlich
leuchtet mir die
Natur!' Die
Natur war
jahrhundertelang
die literarische
Inspirationsquelle
wie keine
andere. Der
Minnesänger sang
zwischen den
Blumen und
versuchte, dem
Gesang der Vögel
um ihn herum
nachzueifern.
Nicht umsonst
begann er mit
einem 'Natureingang'.
Für die
Romantiker wurde
die Natur zur
Zufluchtsstätte,
wo sie sinnieren
und Trost finden
konnten, weitab
von der
verdorbenen
Kultur. Die
Landschaft wurde
zum Spiegel
ihrer Seele. Der
flämische
Dichter Guido
Gezelle -
Romantiker auch,
aber zugleich
ein ins 19.
Jahrhundert
verirrter
mittelalterlicher
Mensch - sah in
der Natur die
Offenbarung
Gottes. Und in
der
symbolistischen
Literatur und
der
naturmagischen
Dichtung des 20.
Jahrhunderts
versuchte der
Dichter die
Zeichen zu
deuten, die er
im
geheimnisvollen
Buch der Natur
vorfand.
Für jemand wie
Goethe gab es
keine Kluft
zwischen
Naturschönem und
Kunst. 'Wem die
Natur ihr
offenbares
Geheimnis zu
enthüllen
anfängt, der
empfindet eine
unwiderstehliche
Sehnsucht nach
ihrer würdigsten
Auslegerin, der
Kunst.' (Maximen
und Reflexionen,
1812) Das
Naturschöne war
der Gradmesser
von Schönheit
tout court und
die Natur galt
sogar lange Zeit
als Garant für
Recht und
Ordnung ('Naturrecht').
Inzwischen hat
sich die Natur -
trotz der
Tatsache, dass
sie immer mehr
ausgebeutet wird
- in unserer
Kollektivvorstellung
fast zur
heiligen Kuh
entwickelt.
Werbeleute,
Umweltschützer
und Politiker –
bien étonnés de
se trouver
ensemble –
erweisen ihr
dauernd ihren
Respekt, oder
ist es nur ein
Lippenbekenntnis?
Als der berühmte
postmoderne
Architekt Mario
Botta vor kurzem
in einem
Interview
erwähnte: 'Um
Architektur zu
machen, muss ich
die Natur töten',
erregte er große
Empörung. 'Was
früher Liebe zu
Gott war',
schreibt der
niederländische
Kulturphilosoph
Ton Lemaire, 'ist
jetzt Liebe zur
Natur geworden.'
Einstimmigkeit
also, naturgemäß
sozusagen? Die
Literatur wäre
nicht Literatur,
wenn auch keine
abweichenden
Stimmen
geklungen hätten
und auch jetzt
klingen:
Antinaturgefühle
oder jedenfalls
relativierende
Äußerungen
gegenüber dem,
worüber man ganz
einer Meinung zu
sein scheint.
Ich lasse einige
Revue passieren,
ohne
Vollständigkeit
nachzustreben.
Zwei Ansichten
Nietzsche, der
Denker, der so
viele westliche
Werte und
Abgötter
zertrümmert hat,
gibt auch der
Natur einen
Hammerschlag. Im
fünften Buch der
Morgenröte
(1881)
beschwört er
zuerst ein
Naturerlebnis
herauf, das
unmittelbar aus
der Romantik
herzukommen
scheint:
"Hier ist
das Meer, hier
können wir die
Stadt vergessen.
[...] Jetzt
schweigt alles!
Das Meer liegt
bleich und
glänzend da, es
kann nicht
reden. Der
Himmel spielt
sein ewiges
stummes
Abendspiel mit
roten, gelben,
grünen Farben,
er kann nicht
reden. Die
kleinen Klippen
und Felsenbänder,
welche ins Meer
hineinlaufen,
wie um den Ort
zu finden, wo es
am einsamsten
ist, sie können
alle nicht
reden. Diese
ungeheure
Stummheit, die
uns plötzlich
überfällt, ist
schön und
grausenhaft, das
Herz schwillt
dabei.-"
Dann kommt die
Wende:
"O der
Gleißerei dieser
stummen
Schönheit! Wie
gut könnte sie
reden, und wie
böse auch, wenn
sie wollte! Ihre
gebundene Zunge
und ihr
leidendes Glück
im Antlitz ist
eine Tücke, um
über dein
Mitgefühl zu
spotten! [...]
Aber ich
bemitleide dich,
Natur, weil du
schweigen musst,
auch wenn es nur
deine Bosheit
ist, die dir die
Zunge bindet;
ja, ich
bemitleide dich
um deiner
Bosheit willen!"
Die Natur
beeindruckt den
Menschen so,
dass sie ihn
dazu anregt,
auch zu
schweigen und an
sich selbst zu
zweifeln.
O Meer! O
Abend! Ihr seid
schlimme
Lehrmeister! Ihr
lehrt den
Menschen
aufhören,
Mensch zu sein!
Soll er sich
euch hingeben?
Soll er werden,
wie ihr es jetzt
seid, bleich,
glänzend, stumm,
ungeheuer, über
sich selber
ruhend? Über
sich selber
erhaben?
Nietzsche
ergreift Partei
für den Menschen,
der sich durch
seine Verehrung
der Natur nicht
schwächen lassen
darf. Die Natur
verführt zu
Passivität, hält
den Menschen
unter dem Daumen.
Der
niederländische
Dichter J.C.
Bloem, einfach
glücklich in der
Dapperstraat (=
Tapferstraße –
ein Name, der
Nietzsche wohl
gefallen hätte),
fasst diese
Gefahr in seiner
berühmten
Verszeile
zusammen: 'Natur
ist für
Zufriedene oder
Leere'.
Der Philosoph
mit dem Hammer
hat mit seiner
Kritik am
romantischen
Naturerleben
einen sanften
Vorläufer im
aufgeklärten
Romantiker
Heinrich Heine.
Das Besingen der
Natur – dem er
sich auch noch
unproblematisch
gewidmet hat –
weicht bei ihm
einem kritischen
Kommentar zu der
Art und Weise,
wie Menschen mit
ihr umgehen. In
seinem Buch
der Lieder
(1827)
beschreibt er,
wie ein junger
Mann vom wüsten
nächtlichen Meer
Antwort erwartet
auf dessen
Fragen nach der
Herkunft und
Bestimmung des
Menschen, nach
dem Sinn der
Welt. Die Natur
aber schweigt.
Es murmeln
die Wogen ihr
ew'ges Gemurmel,
Es wehet der
Wind, es fliehen
die Wolken,
Es blinken
die Sterne,
gleichgültig und
kalt,
Und ein Narr
wartet auf
Antwort.
Eine junge Dame,
die sich von
ihrem Gefühl
mitreißen lässt
und den
Sonnenuntergang
etwas zu absolut
auffasst,
bekommt zu hören,
sie soll sich
keine Sorgen
machen
Das Fräulein
stand am Meere
Und seufzte lang
und bang
Es rührte sie so
sehre
Der
Sonnenuntergang.
Ach Fräulein,
seien Sie munter
Das ist ein
altes Stück
Dort vorne geht
sie unter
Und kehrt von
hinten zurück.
(Neue
Gedichte,
1844)
Die Erklärung
erinnert an die
mechanistischen
Auffassungen der
Natur, die seit
ein paar
Jahrhunderten in
der Wissenschaft
und Philosophie
Anklang finden.
Heine holt hier
die Spaltung
zwischen der
wahren (wissenschaftlich
erklärbaren) und
der schönen (ästhetisch
genießbaren)
Natur ins
Gedicht hinein.
Seine
ehrfurchtslose
Reaktion
erinnert an die
noch viel
respektlosere
Haltung, die
Francis Bacon,
der Grundleger
der Wissenschaft
in der Neuzeit,
angesichts der
Natur einnahm: 'Wir
müssen die Natur
foltern, um ihr
so ihre
Geheimnisse
abzulisten'.
Heines Haltung
bildet
einstweilen noch
eine Ausnahme.
Die Literatur
wird sich lange
Zeit dumm
stellen und in
ihrer
Schwärmerei mit
der Natur die
fortschreitende
Entzauberung
durch
Wissenschaft und
Industrie
negieren.
Fünfzig Jahre
später versucht
Guido Gezelle
noch, die Natur
des Verstands
und die des
Gemüts zu
versöhnen:
Die Sonne
geht auf,
die Sonne geht
nieder,
die Sonne geht
auf
und geht unter;
beharrlich hin,
beharrlich
wieder,
beharrlich wirkt
sie das Wunder.
(Reimschnur)
Bleiben wir aber
noch kurz bei
Heine. Er
prangert nicht
nur den Wunsch
an, von der
Natur Einsicht
in die
Lebensrätsel zu
bekommen,
sondern auch das
eigene
romantische
Bedürfnis, bei
ihr Trost zu
suchen, wenn man
traurig ist.
Und
wüssten's die
Blumen, die
kleinen
Wie tief
verwundet mein
Herz,
Sie würden mit
mir weinen,
Zu heilen meinen
Schmerz.
(Buch der
Lieder)
Das gleiche gilt
für die
Nachtigallen und
die Sterne,
jeweils im
Irrealis. 'Die
alle können's
nicht wissen'.
Mensch, so
scheint Heine zu
sagen, mach dir
keine Illusionen.
Projiziere deine
Trauer nicht in
die Natur, denn
sie versteht
nicht das
geringste davon.
Die
ewige alte
Nörglerin
Der Großstädter
Charles
Baudelaire macht
keinen Hehl
daraus, dass er
eine
ausgesprochene
Abkehr von der
Natur hat. Seine
Haltung ist viel
revoltierender
als die Heines:
Baudelaire ist
der moderne
Prometheus. Im
bekannten
Gedicht
Correspondances
entfernt sich
der Geist schon
von der realen
Natur.
Baudelaire sieht
die Natur als
einen Tempel mit
beseelten Säulen,
einen Wald von
Symbolen, der
sich für seine
Seele in Gerüche,
Farben und
Klänge auflöst.
In Obsession
hört er die
Natur, anders
als Nietzsche,
reden: Wälder
kreischen wie
Orgeln, der
Ozean (doch noch
großgeschrieben)
schallt. Was
stellt sich aber
heraus? Jene
Klänge und
Mitteilungen
sind seinem
Herzen, seinem
Auge entsprossen.
Baudelaire hat
durchschaut,
dass wenn der
Mensch die Natur
hört, er eigener
Projektion
erliegt: Die
Dinge außer uns
sind
objektivierte
und gleichsam
geronnene
Gedanken und
Emotionen.
Im Gedicht
Paysage hat
der Dichter
anscheinend noch
einigermaßen
einen Blick für
das Naturschöne,
aber schon rasch
kehrt er sich ab:
Je verrai
les printemps,
les étés, les
automnes;
Et quand viendra
l'hiver aux
neiges monotones,
Je fermerai
partout portes
et volets
Pour bâtir dans
la nuit mes
féeriques palais.
(Les Fleurs
du Mal,
1857)
Wenn Baudelaire
die vage, stumme
und ungeordnete
Eintönigkeit
einer Landschaft
betrachten muss,
so schreibt
Sartre in seiner
Monographie über
den Dichter,
überkommen ihn
Abkehr und
Langeweile.
"Vous me
demandez des
vers pour votre
petit volume,
des vers sur
la nature,
n'est-ce pas?
sur les bois,
les grands
chênes, la
verdure, les
insectes - le
soleil sans
doute? Mais vous
savez bien que
je suis
incapable de
m'attendrir sur
les végétaux, et
que mon âme est
rebelle à cette
singulière
religion
nouvelle qui
aura toujours,
ce me semble,
pour tout être
spirituel, je ne
sais quoi de
shocking.
Je ne croirai
jamais que
l'âme des Dieux
habite dans les
plantes, et
quand même elle
y habiterait je
m'en soucierais
médiocrement et
considérerais la
mienne comme
d'un bien plus
haut prix que
celle des
légumes
sanctifiés.
(Brief an F.
Desnoyers, 1855)
Baudelaire sagte
nein zum
Natürlichen in
ihm und ließ
sich – o
Provokation –
die Haare grün
färben. In einem
seiner
Prosagedichte
aus Le
Spleen de Paris
(1869)
schreibt er
offen:
"Cette ville
est au bord de
l'eau; on dit
qu'elle est
bâtie en marbre,
et que le peuple
y a une telle
haine du végétal,
qu'il arrache
tous les arbres.
voilà un paysage
selon ton goût;
un paysage fait
avec la lumière
et le minéral,
et le liquide
pour les
réfléchir!"
Die Hauptfigur
Des Esseintes
aus Joris-Karl
Huysmans' Roman
A rebours
(1884)
fasst den Spruch,
den Baudelaire
dem Prosagedicht
mitgibt,
wortwörtlich auf:
'Anywhere out of
the world'. Er
zieht sich in
eine
komfortabele
Einsiedlerwohnung
zurück und
betrachtet das
Künstliche als
das Kennzeichen
menschlicher
Vernunft.
"Die Natur
hat ihre Zeit
gehabt. Durch
die
ekelerregende
Gleichförmigkeit
des Himmels und
der Landschaft
hat der
aufmerksame,
feine Beobachter
endgültig genug
von ihr. Welch
eine große
Unbedeutendheit,
als wäre sie ein
Spezialist, der
nur alles vom
eigenen Fach
weiß; sie ähnelt
der jämmerlichen
Engstirnigkeit
einer
Ladenbesitzerin,
die nur einen
einzigen Artikel
verkauft; welch
ein eintöniges
Kaufhaus von
Wiesen und
Bäumen, wie sind
Berge und Seen
doch banal
eingeteilt!
[...]
Wirklich, die
Bewunderung
aller wahren
Künstler für
diese ewige alte
Nörglerin ist
verschwunden,
und die Zeit ist
da, wo sie, wo
es nur möglich
ist, durch das
Künstliche
ersetzt werden
soll."
Des Esseintes
lässt Blumen aus
Edelsteinen
anfertigen,
betrachtet einen
Abendhimmel mit
Schnee als
handelte es sich
um Kunsthermelin
und
transformiert
allmählich seine
'Schwäche':
seine Liebe zu
Blumen. Zuerst
hat seine
natürliche (!)
Neigung zum
Künstlichen ihn
dazu gebracht,
die wirkliche
Blume zugunsten
ihrer Kopie zu
vernachlässigen,
und hat er
Kunstblumen
anfertigen
lassen. Dann
will er
natürliche
Blumen, die
genauso aussehen
wie unechte und
wendet er sich
an
spezialisierte
Blumenzüchter:
'in ein paar
Jahren kann der
Mensch eine
Selektion
durchführen,
welche die
langsame Natur
erst nach
Jahrhunderten
zustandebringen
kann; in dieser
Zeit sind die
Blumenzüchter
bestimmt die
einzigen und
wahren Künstler'.
Das Abnormale,
hatte de Sade
schon im 18.
Jahrhundert
geschrieben,
beweist die
Überlegenheit
des Menschen
über die Natur.
Wer Des
Esseintes jedoch
als
Schwerneurotiker
abstempelt,
sollte bedenken,
dass heutige
Wissenschaftler
(zum Beispiel in
der
Biotechnologie)
und die
Entwerfer einer
virtuellen
Realität in
ihren
Denkbildern
nicht so weit
von ihm entfernt
sind.
Der junge Paul
van Ostaijen,
genau wie Des
Esseintes ein
dekadenter
Dandy, teilt die
Vorliebe von
Baudelaire und
Huysmans für das
Künstliche. Der
Sonnenuntergang,
den er
beschreibt, ist
in der Stadt zu
sehen. Im
Gegensatz zu dem,
was Heine der
jungen Dame zu
erklären
versuchte, geht
die Sonne, wenn
es von ihm
abhängt,
endgültig unter.
Abenddämmerung
Nun ist von
kalifornischem
Gold die Zeit;
Die sterbende
Sonne sammelt
Ihre Kräfte für
eine weite Fahrt,
Die letzte
dieses Tages,
zur Erde hin.
Dort hat die
Sonne ein
letztes Mal
Ihre
sterbensfade
goldene Pracht
Gesammelt in
einem gläsernen
Straßenbahnportal.
(Music hall,
1916)
Baudelaire sagte
es schon: 'Ich
liebe Sachen,
die man nie ein
zweites Mal
sehen wird.'
Schuldige
Landschaft
Die Abkehr von
der Natur
bekommt im 20.
Jahrhundert
Unterstützung
aus einer Ecke,
die nichts mit
der 'splendid
isolation' der
Dandys oder
Dekadenten zu
tun hat - die
gesellschaftlich
engagierten
Autoren. Sie
sind zwar keine
Gegner der Natur,
finden aber,
dass man mit ihr
aufpassen soll;
sie wenden sich
auf jeden Fall
gegen kritiklose
Bewunderung.
Bertolt Brecht
formuliert im
Gedicht An
die
Nachgeborenen
(1939) – seinem
im dänischen
Exil
geschriebenen
geistigen
Testament –
seinen Vorbehalt:
'Was sind das
für Zeiten, in
denen ein
Gespräch über
Bäume fast ein
Verbrechen ist,
weil es ein
Schweigen über
so viele Untaten
einschließt.'
Der
Perspektivwechsel
ist auffällig:
Die
Aufmerksamkeit
gilt dem
Menschen, der
spricht oder
schweigt, die
Natur ist bloß
Gegenstand.
Auch abgesehen
von den
Naziverbrechen
äußert Brecht
sein Misstrauen
gegenüber der
Nachgiebigkeit
der Natur, die
nicht zwischen
Gut und Böse
unterscheidet:
Von der
Willfährigkeit
der Natur,
ein Gedicht aus
der
Hauspostille
(1927):
"Ach, dem
Mann, der das
Kind mißbraucht
hinterm Dorfe
Neigen sich
Ulmen noch mit
schönem und
schattigem Laub.
Und es
empfiehlt eure
blutigen Spuren,
ihr Mörder
Unserm Vergessen
der blinde,
freundliche
Staub."
Man darf laut
Brecht die Natur
nicht vom
Menschen
getrennt
betrachten, sie
nicht von der
gesellschaftlichen
Realität
loslösen. In den
Spuren von Marx
und Engels, die
in ihren Briefen
von der 'Antiphysis'
reden (und dabei
selber Auguste
Comtes Begriff
der 'Anti-Natur'
nachfolgten),
hegt Brecht das
Ideal einer
menschlichen
Ordnung, die den
blinden
Mechanismen,
Irrungen und
Ungerechtigkeiten
der natürlichen
Welt diametral
entgegengesetzt
ist. Der Mensch
soll selbst
Naturkraft
werden, und das
wird er nur
durch die Arbeit.
Herr K. und
die Natur
Befragt über
sein Verhältnis
zur Natur, sagte
Herr K.: 'Ich
würde gern
mitunter aus dem
Haus tretend ein
paar Bäume sehen.
Besonders da sie
durch ihr der
Tages- und
Jahreszeit
entsprechendes
Andersaussehen
einen so
besonderen Grad
von Realität
erreichen. [...]
da haben Bäume
für mich, der
ich kein
Schreiner bin,
etwas beruhigend
Selbständiges,
von mir
Absehendes, und
ich hoffe sogar,
sie haben selbst
für die
Schreiner
einiges an sich,
was nicht
verwertet werden
kann.'
(Herr K. sagte
auch: 'Es ist
nötig für uns,
von der Natur
einen sparsamen
Gebrauch zu
machen. Ohne
Arbeit in der
Natur weilend,
gerät man leicht
in einen
krankhaften
Zustand, etwas
wie Fieber
befällt einen.')
(Geschichten
vom Herrn Keuner,
1930)
Auch in seinen
späten
Gedichten, wie
den Buckower
Elegien
(1953), ist die
Natur nichts
ohne menschliche
Anwesenheit.
Der Rauch
Das kleine
Haus unter
Bäumen am See.
Vom Dach steigt
Rauch.
Fehlte er
Wie trostlos
dann wären
Haus, Bäume und
See.
In der
niederländischen
Literatur ist es
Armando, der
Nietzsches
Kritik am
Schweigen der
Natur auf
historische
Situationen,
insbesondere den
Zweiten
Weltkrieg,
zuspitzt.
Verschiedene
seiner Bücher (Tagebuch
eines Täters,
Geschichte
eines Ortes,
Straße und
Gestrüpp)
beschreiben die
Landschaft in
der Nähe eines
deutschen
Durchgangslagers
bei Amersfoort.
Auch in seinen
Bildern und
Zeichnungen
erscheinen die
Paysages
Criminels, die
Beschuldigte
Landschaft und
die Schuldige
Landschaft.
"Wie nennt
man das Meer
auch wieder? Man
nennt es:
atemberaubend,
eindrucksvoll,
überwältigend.
Und das ist es,
ohne Zweifel.
Und
furchterregend,
nicht zu
vergessen.
Trotzdem nenne ich es lieber rücksichtslos, rücksichtslos. Und
unbarmherzig.
Lassen Sie es
mich so sagen:
Vielleicht ist
es atemberaubend
und
eindrucksvoll
und
überwältigend
und
furchterregend,
weil es so
rücksichtslos
und unbarmherzig
ist.
Aber hin und
wieder finde ich
es trotz oder
vielleicht
gerade wegen
seiner
Rücksichtslosigkeit
ein wenig
verzweifelt,
jämmerlich sogar.
Das Meer ist
auch nur ein
Mensch."
(Vorfälle in
der Wildnis,
1994)
Werden hier
nicht wiederum
menschliche (jetzt
negative)
Eigenschaften in
die Natur
hineinprojiziert
– etwas, das
Heine schon
bestritt?
Eigentlich
verwenden Brecht
und Armando die
Natur als
rhetorischen
Kniff. Die
Landschaft wird
zur Metapher für
die schweigende
Mehrheit von
Menschen, die
schon hätten
eingreifen
können. Die Idee
einer schuldig
schweigenden
Natur kann nur
bestehen, weil
ihr eine lange
Tradition 'kommunizierender'
Natur
vorausgegangen
ist: 'Wenn die
Seele hinhört,
spricht alles
eine Sprache,
die lebt.'
(Gezelle)
Weg mit
den Bildern
Die bildende
Kunst hat sich
in der ersten
Hälfte des 20.
Jahrhunderts
immer mehr von
der Natur
entfernt. Lässt
sich noch sagen,
dass die
expressionistischen
und abstrakten
Maler das Wesen
oder die
geistige Wirkung
einer Landschaft
in ihren Bildern
wiedergeben
wollten, so ist
das bei den
Surrealisten
schon viel
schwieriger.
Einem Max Ernst
oder Yves Tanguy
geht es eher
darum, die Natur
durch verlassene
oder öde Ebenen
zu ersetzen, die
von allem
befreit sind,
was sie für den
Menschen
bewohnbar machen
kann und als
einzige Wesen
einzelne
Gegenstände,
Maschinen oder
evolutionäre
Urformen
enthalten.
Zu gleicher Zeit
ist die Natur in
der populären
Kultur nie so
oft abgebildet
worden wie heute:
Ansichtskarten,
Nadturdokumentarfilme,
Reiseprospekte
und Urlaubsfotos
strotzen davon.
Welcher Film,
welche Diareihe
oder welches
Reisevideo endet
nicht mit einem
Sonnenuntergang?
Natur ist
dermaßen das
begehrte Ziel
von Touristen
und
Erholungssuchenden
geworden, dass
man – wenn sie
ein Kunstwerk
wäre – von 'gesunkenem
Kulturgut'
sprechen könnte,
das für die
Masse
ausgestreut wird.
Als Objekt des
Tourismus
bekommt sie
etwas von einem
Déjà-vu, einem
Klischee.
Menschen reisen,
wie Walter
Benjamin sagte,
um irgendwo zu
bewundern, was
andere bewundern.
Es ist klar,
dass eine solche
Konsumhaltung
Schriftsteller –
die nach dem
Ausspruch
Flauberts 'alles
anders sehen
wollen als die
anderen Leute' –
aus ihrer
Reserve
herauslocken
muss.
Der
österreichische
experimentelle
Autor Konrad
Bayer, der sich
regelmäßig aufs
Land zurückzog,
'um seinen
Körper zu
entgiften',
nimmt in seinen
fragmentarischen
Roman der
sechste sinn
(1964)
desautomatisierende
Landschaftsbeschreibungen
auf. Die
Möglichkeit,
dass man darüber
hinwegliest, ist
gerade deshalb
klein, weil sie
sich auf ein
Terrain begeben,
wo normalerweise
die gedankenlose
Wahrnehmung
vorherrscht.
"die
landschaft,
weiblicher natur,
trägt lässig
vier wochen vor
erscheinen der
abbildungen im
kalendermagazin
die variationen
der braunen
streifen
zwischen grüner
einlegearbeit
und roten
akzenten, von
der diesjährigen
herbstmode
vorgeschrieben.
das parfüm ist
mild und heiter,
weht in
goldenbergs
nasenhärchen,
legt sie kokett
zur seite, aber
goldenberg wil
nicht.
dort oben auf
dem zaun, der da
allmählich
vorbeizieht, im
grübchen der
bergwange, war
er hand in hand
mit seiner nina
gesessen um im
sonnenkino das
serienprogramm 'glühende
abenddämmerung,
ein erhebendes
schauspiel in 28
minutenakten,
für angestellte
und reifere
jugend' zu
geniessen.
lassen wir das
rosige schmalz
auf der netzhaut
zerfliessen,
hatte nina
gesagt, mit
baumelnden
beinen die
stunden des
glücks
zuendetickend."
In diesem
kurzen Fragment
kommen alle
vorher berührten
Aspekte eines
problematischen
Naturerlebens
zusammen: die
Vermenschlichung
der Landschaft,
die wie eine
kokette, nach
der Herbstmode
gekleidete Dame,
den Menschen
verführen will,
das Déjà-vu, die
mechanische
Wiederholung,
die blinde
Schwärmerei, die
Beschimpfung des
Klischees (Schmalz
= Fett, aber
auch etwa ein
sentimentaler
Schlager).
Projektion gibt
es noch in einem
anderen Sinne,
buchstäblich:
Der
Sonnenuntergang
wird wie ein
billiger Film
auf die Leinwand
von Goldenbergs
und Ninas
Gesichtsfeld
projiziert.
Genauso wie in
der modernen
Physik wird der
Beobachter ins
Beobachtungsfeld
einbezogen, um
einen
bewusstzumachen
von den Bildern,
die man
konstruiert.
Das (fast hätte
ich geschrieben
'natürliche')
Bedürfnis an 'connaturalitas',
d.h. Harmonie
zwischen Mensch
und Natur, nimmt
Bayer an einer
anderen Stelle
aufs Korn:
"goldenberg
war in einklang
mit den dingen.
als er vors haus
ging sein wasser
abzuschlagen,
öffnete der
himmel seine
schleusen, und
gemeinsam
erfrischten sie
die erde und
ihre leuchtenden
blumen."
Damit
scheint das
westliche
Naturerlebnis
endültig
ernüchtert zu
sein: 'weg mit
den bildern'
lautet einer der
letzten Sätze
des Romans, 'sie
taugen alle
nichts'. Was man
von der Natur
sagt, ist man
selber. Innen-
und Außenwelt
sind unlösbar
verbunden, ein
unbefangenes
Naturerlebnis
ist eine fromme
Illusion. Bayers
Beschreibung
erinnert an das
Bild
Le soir qui
tombe
(1964) von René
Magritte, das
zeigt, wie ein
Sonnenuntergang
ein Fenster -
unser Bild der
Wirklichkeit -
in Scherben
schießt.
Was bleibt übrig?
Ein wortloses
Genießen der
Natur, das sich
nicht mehr
artikuliert? Ton
Lemaire nennt es
in seiner
Philosophie der
Landschaft
(1970) das Ideal.
'Die reinste
Begegnung mit
der Landschaft
[...] wäre die
schweigsame
Koexistenz des
Wanderers mit
seiner Umgebung,
und insbesondere
das betrachtende
Genießen einer
Fernsicht.'
Wir kennen aber
die Kritik
Nietzsches und -
nach Brecht und
Armando - das
Risiko, das
Passivität
bedeutet. Ein
schweigender
Dichter taugt
nur als
Standbild.
Trotzdem reden
also, wie in
einer zweiten
Unschuld,
nachdem man -
mit Hilfe 'satanischer'
Autoren wie
Baudelaire und
Huysmans - vom
Baum der
Erkenntnis
gegessen hat.
Vielleicht
verbirgt sich
darin eine neue,
befreiende
Chance. Die
Natur, das
andere, anders
sein lassen. Sie
anerkennen, ohne
dass man sie
einverleibt,
aber auch ohne
sich selbst
auszuschließen.
Sie mit neuen,
anderen Worten
beschreiben, zum
Beispiel als
eine
Soft machine
Wald
das donnern
eines tropfens
getöse eines
fallenden
blattes
gekrache
wachsender farne,
grases
Brüllender
gesang von
vögeln
gellende
insekten
niesende
schnecken
keuchende rampen
knirschende
würmer
Wurzeln
schnappen in den
himmel
baumwipfel
beißen einander
in den schwanz
hügel sinken
kühle
schwingungszahl
atem echo des
schattens
Der wald paart
stille gerinnt
blumen
schleichen auf
stelzen
Jemand
hinterließ seine
füße
im moos
jemand vergaß
sein herz in
baumrinde
(Lizzy Sara
May,
Demnächst in
diesem Theater,
1984)
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