konrad bayer und die 'zerschneidung des ganzen'

Konrad Bayers Texte revoltieren nicht gegen bestimmte Sinnsysteme, sondern gegen das was diese als Fundament ihrer Überbauten unbehelligt lassen: die Prätention einer die Wirklichkeit abbildenden Sprache. Dass die Macht der Konvention die Willkür der Abbildung verdeckt, die Sprache bescheiden Transparenz mimt in Bezug auf eine 'objektive Realität', die sie selber erst erzeugt hat, ist Anlass genug, "'wirklichkeit' auszustellen, und damit, in konsequenz, abzustellen" (1). Die leichte Formulierung täuscht über die Schwierigkeiten hinweg, dieses Ziel schreibend zu erreichen, heißt es doch, den Gegner mit dessen Waffen zu besiegen. Fraglos lässt sich Sprache unkonventionell verwenden, nimmt man ihr die Last der Inhalte von den Schultern. Das System selbst wird geschont und kann reibungslos weiterfunktionieren. Ästhetizistischer Unverbindlichkeit auszuweichen, lockt die Rückkehr zum Gehalt. Die klarere Ausgangsposition mag besseren Halt in der Attacke versprechen, sitzt aber schon der Sprache auf, der sie zu entkommen glaubt. So sind Abweichungen von den Ausdrucksnormen oft nur formalistische Spielerei, die Exzentrik mit Funktionslosigkeit paart, oder naives Ornament einer Gesinnungskunst, die ganz in der Sprache denkt. Dem metaphorisch angedeuteten Dilemma entgeht nur, wer die Spannung im dazwischenliegenden Niemandsland auszuhalten vermag, "ausprobierend, wie weh es tut, nach dem absägen des asts zu fallen – oder bleibt man schwebend?" (2)

Wenn die Sprache der Ort der Konvention ist, wo das Individuum ebenso stetig wie unbemerkt der Korrektur durch die Gesellschaft unterliegt, gilt es, diesen Sachverhalt ins Bewusstsein zu heben. Konrad Bayer verzichtet dafür betont auf die Ingredienzien, die Literatur gemeinhin attraktiv machen und einem Schriftsteller Kunstfertigkeit attestieren: originale Phantasie, treffsichere Beschreibung von Dingen und Seelenzuständen, einen 'individuellen' Stil. Schon früh markiert er die Sprache seiner Gedichte und Prosatexte als eine geliehene, verbrauchte. In "wir kennen den stein der weisen" (GW, 20) reiht das kollektive Aussagesubjekt anscheinend ohne Überzeugung und beliebig gefundene Sätze und Erlerntes aneinander zu einem illusionslosen Durchblick auf Zivilisationsmüll und Lebensbanalität. Die nach den Regeln des methodischen Inventionismus verfertigten Texte (GW, 23ff) holen ihre Poetizität geradezu aus der archaischen Starre der Bestandteile und deren unbeschränkter Kombination. Die undatierten Gedichte "hie und da feucht" bis "los" (GW, 31f.) erwecken den Eindruck, ihre Mitteilung angesichts des kläglichen Wortmaterials einzustellen. Stärker noch als in den kurzen Montagen, die zur Not als Distanzierung von einem bestimmten ('trivialen') Sprachgebrauch gelesen werden könnten, entlarvt Bayer die Natürlichkeit der Sprache in "der vogel singt" und weiteren, offen konstruktiven Texten, u.a. seines Romans "der sechste sinn". Er verstößt darin betont gegen die stilistische Forderung syntaktisch-lexikalischer Variation, indem er Beschreibung wie Handlungsablauf einem sich gleichbleibenden, einfachen Grundmuster folgen lässt, für dessen Ausfüllung er nur ein beschränktes Inventar zur Verfügung hat. Dass damit auf der konkreten Textebene eine zweifelhafte Eigenschaft der Sprache sinnfällig wird, die sonst, durch Ausdrucksnormen beschützt, in der Aura der Potentialität verborgen bleibt, bedarf wohl keiner weiteren Erläuterung. Die konsequente Verwendung von Gattungsnamen in der 'dichtungsmaschine' ('der jüngling', 'die bauern', 'der verkäufer'...), das heißt das völlige Fehlen von Eigennamen, gehört in den gleichen Zusammenhang.

'Die Zeittrompete' (Entwurfskizze zu 'der vogel singt')

Die aufgezeigte Verdinglichung der Sprache widerlegt den Glauben an deren Repräsentierkraft sowohl in Bezug auf ein Subjekt (als 'Ausdruck') wie auf die Welt (als 'Abbild'). Nur dadurch, dass die Sprache diese beiden ersetzt, kann sie behaupten, zutreffend zu sein. Wie Bayer vorführt, bewegt sich die so entstandene 'Welt' in einem geschlossenen Kreis. Klassifikation und Etikettierung der 'Wirklichkeit' reduzieren das Erkennen darauf, einen Gegenstand "mit seinem rechten Namen zu bezeichnen": "Alles Erkennen ist ein Wiedererkennen oder Wiederfinden" (3). Dies erklärt das Bilderbuchhafte der von Bayer evozierten Welt, die durchweg eingerahmt erscheint ("ganz links in der landschaft steht eine sonnenblume", GW 58), in der die Vorgänge Szenenwechseln auf einer Guckkastenbühne gleichen ("an den wänden erscheint eine vollmondnacht mit allem zubehör", GW 341) und die Natur – in zahllosen Philosophien Garant für die Notwendigkeit einer Ordnung – nicht mehr vom Artefakt zu unterscheiden ist:

da sass er vor dem offenen fenster wie vor einem vorhang mit diesen beiden hügeln vor der nase in der mitte durchgelegen wie die matratze auf seinem bett mit diesem himmel wie der alte teppich vor dem ofen rund wie die bäume vor ihm draussen oder da drinnen mit diesem ast wie das glühende ofenrohr bei diesem sonnenstand diese landschaft wie ein kasten das innen nach aussen gemalt die türen offen die läden des fensters warm geheizt dieses zimmer im hotel ist es winter? (GW, 376)

In "der vogel singt" fördert Bayer die Interdependenz der künstlichen Sprache und der von ihr geschaffenen Wirklichkeit am rücksichtslosesten dadurch zutage, dass er regelmäßig im Bilde die Raster aufscheinen lässt, die dessen Intelligibelität bedingen: "reihen von pilzen teilen die landschaft in rhythmischen abständen parallel zum horizont" (GW, 56), "der staunende jüngling legt den querschnitt einer lokomotive über eine hängebrücke" (GW, 59), "der jüngling ist auf dem weg über die bilder der landschaft" (GW, 69).

Der Vergleich mit ähnlichen Versuchen einer künstlichen Beschreibung, zum Beispiel im Nouveau Roman, macht die Radikalität von Bayers Position deutlich. Wollen die geometrischen Oberflächenbeschreibungen des Nouveau Roman die dargestellte Welt als Fiktion hervorheben, die nicht mit der 'objektiven Realität' vergleichbar ist, so treibt Bayer die Desillusionierung zum Äußersten, indem er auch diese Bezugsgröße als Konstruktion der Menschen ausweist. Die 'neutrale' Wahrnehmung, durch die 'l'école du regard' der allseitig nahegelegten Sinngebung der Realität zu entkommen hofft, ist für Bayer bereits Teil der genormten Weltmaschine. Goldenberg sieht am ersten Morgen in "der sechste sinn" durch ein Gitter: "kanelierte gestänge durchzogen seine aussicht [...] gehorsam schwenkte goldenberg den blick in den beginn seiner perspektive" (GW, 342), und auch Vitus Berings Blick wird als ein verdinglichter beschrieben: "sein blick verfing sich in einem wald von grossen schildern und handwerkszeichen, die die enge strasse in abendliche dämmerung hüllten, und fiel wieder zu boden" (GW, 297). Die krasseste Formulierung für das Eingesperrtsein im Konstrukt der 'Wirklichkeit' findet sich in "der sechste sinn": "[...] unten erwarten sie die standbilder der passanten. siehst dus, sagt goldenberg, die luft ist aus marmor, ich lebe im fels, die welt ist mein anzug." (GW, 395)

Konrad Bayer im Café Hawelka (1962)

Öfter jedoch als das Bild des Steines verwendet Konrad Bayer das Motiv des Eises, wie um der endgültigen Starre eine veränderlichere Möglichkeit entgegenzusetzen. "die wunder toben in ihren käfigen aus eis" (GW, 24) heißt es in einem frühen Prosagedicht, und einer der poetischen Sätze aus dem "vogel singt" sagt von der Hauptfigur – die dem "engel im eis" aus dem gleichnamigen Gedicht ähnelt –: "er bricht das eis von seinen lippen" (GW, 76). Bayers Einsicht in den künstlichen Charakter der Sprache, die Entdeckung, dass nichts außer gesellschaftlicher Zweckrationalität ihr System notwendig motiviert ("das wort, aus der hilflosen faulheit der menschenpyramide und ihrer sucht nach ruhe und mütterlicher geborgenheit entwickelt", GW 414), führt dazu, ihren Spielregeln die Reverenz zu kündigen. Eine erste Provokation besteht darin, die durch Konvention zum Stillstand gebracht Arbitrarität der Zeichen individuell zu reaktivieren. Die verschiedenen Texten ablesbare Fasziniertheit durch Eigennamen – den einzigen Bereich, wo die Gesellschaft ihren Mitgliedern eine gewisse Freiheit der Benennung gestattet – mag hier ihre Erklärung finden. Dass Bayer exzessiv von dieser Freiheit Gebrauch macht, versteht sich von selbst. Die erste Kurzgeschichte des Zyklus "sechsundzwanzig namen" ist "alfred" überschrieben. Darin heißt es zu Anfang über die Titelfigur: "in allen diesen zonen leben menschen. einer von ihnen war alfred. das heisst, er nannte sich alfred, obwohl er robert hiess" und gegen Ende über ihren Jugendfreund und jetzigen Gegenspieler, Robert: "nachdenklich bemerkte robert, das heisst, er nannte sich robert, obwohl er alfred hiess [...]" (GW, 194f.). In einer anderen Kurzgeschichte lernt der Leser 'karl' kennen, der sein Löschpapier 'ernst' nennt (GW, 202), im "sechsten sinn" findet er folgende, die Frage der Bezeichnung überhaupt thematisierende, Passage: "goldenbergs rumpf hat einen aufsatz, den sogenannten kopf, der, wenn er aus gips wäre büste hiesse, dieser war mit einem gegenstand zum teil bedeckt, den die anderen hut, goldenberg aber karl nannte" (GW, 422). Die Auflösung der konventionellen Verbindung von Wort und 'Sache' gipfelt in dem Prosastück "karl ein karl", das jede Identifikation ad absurdum führt. Lesen ist ein Kampf um das Benennen (4).

[...] und karl verzichtet auf karl und karl und karl wird da zum vorläufigen karl ernannt. da nennt karl karl karl. ein karl entspinnt sich. karl entpuppt sich als karl und karl entschliesst sich karl bei karl zu lassen und lässt karl bei karl doch karl lässt karl nicht mit karl bei karl und entschliesst sich karl nicht bei karl zu lassen wenn karl mit karl bei karl bleibe. [...] (GW, 262)

Der letztgenannte Text stellt eine weitere, grundlegende Eigenschaft der Sprache in Frage: den diakritrischen Charakter der Sprachzeichen – "dans la langue, il n'y a que des différences" (Saussure) –, der sowohl die einzelnen Entitäten als auch das Gesamtsystem der sprachlichen Zerschneidung der 'Wirklichkeit' plausibel machen soll. Dabei geht es Bayer offensichtlich nicht um die von Sprache zu Sprache variierende Art dieser Aufgliederung (5), sondern um das – von Whorf anerkannte – Prinzip, den Zwang zum Verschnitt selber. Wenn ein sich artikulierendes Denken zwangsläufig auf die Sprache zurückgreifen muss, obwohl diese "zu unbeholfen (ist) um die wahrheit zu sagen" (6), kommt es darauf an, den Einfluss der sprachlichen Ordnung aufzustauen. Zahlreiche Texte Bayers sind Versuche, die Grenzen auf unserer sprachlichen 'Landkarte' zu verschieben (7). In "der kopf des vitus bering" erscheinen die aufgefundenen, aus dem sie legitimierenden Zusammenhang losgelösten Elemente (Beschreibungen, Anekdoten) als verdinglichte Äußerungen, die mehr verdecken als 'objektiv' mitteilen. "jede aussage ist eine einschränkung, und zwar eine beliebige, insofern, als sie eine unter möglichen aussagen ist. je gezielter formuliert, um so erregter vibriert ihre beliebigkeit." (8) Die bruchhafte Anordnung der Segmente, die immer isolierter auf den weißen Seiten stehen, nimmt den Formulierungen ihre Selbstverständlichkeit. Der Erkenntnis provozierende Schock des Textes besteht darin, dass – 'obwohl' herkömmliche Ordnungsprinzipien fehlen – Zusammenhänge zwischen den Elementen hervortreten, die die einer konventionell explizierten Darstellung weit hinter sich lassen. Was bei der normalen Textgestaltung nur zufälliges Nebenprodukt ist, liegt der Montage in "der kopf des vitus bering" als Konstruktionsregel zugrunde: Homonymie, Polysemie, phonetische Ähnlichkeit, paradigmatische Gleichwertigkeit etc. Bei den entstehenden Kollisionen werden die sprachlichen Fixierungen aufgebrochen und mit Bedeutungen geladen, die in ihrem ursprünglichen Kontext 'ausgeschlossen' waren. Das auf Inklusion beruhende Montageverfahren unterläuft die trügerische Identität der Zeichen und den exklusiven Anspruch konventioneller Abbildungsbeziehungen. Dass Konrad Bayer Vitus Bering als der Bezugsfigur seiner größten Montage die Eigenschaften eines Schamanen zuschreibt, hängt, wie der 'Index' dokumentiert, unmittelbar mit dem oben angedeuteten Erkenntniswillen zusammen. In der willentlich herbeigeführten epileptoiden Trance des Schamanen sieht Bayer seine Hoffnung realisiert auf eine Bewusstseinsveränderung, die die Grenzen des Körpers überschreitet. Kann sich der Leser ihr öffnen, wird die Lektüre von Bayers Montage stellvertretend zu einer Ekstasetechnik, die die Vorstellungen für Momente aus ihrer sprachlichen Einklemmung löst.

Wie es fast immer bei Konrad Bayer der Fall ist, hält dieser nach Aufhebung aller Trennungen strebende Text ständig auch sein Gegenteil präsent. Der Abschnitt "feststellung" (GW, 306) zum Beispiel entkräftet die Analogie zwischen Vitus Bering und einer Reihe von historischen Figuren, die sonstige Textteile bis zur Suggestion der Gleichheit ("detail", GW 310) postulieren. Der Evokation von Bayers Trance folgt als letzter Abschnitt ein durch seine sprachliche Wiederholung und physikalische Perspektive insistenter Hinweis auf das 'normale' Schicksal. Bayers Werk lässt zum "sechsten sinn" hin zunehmend erkennen, dass die kognitive Einschränkung durch die Sprache eine Bedingtheit unter anderen, zum Teil nicht zu relativierenden Zwängen ist. Der Vergleich von Bayers verkürztem Selbstzitat im 'Index' – "zeit ist nur zerschneidung des ganzen und durch die sinne" – mit der vollständigen Passage in "der sechste sinn" führt in den Kern des Problems: "zeit? staunte goldenberg und einige tage später, nachdem er sich die sache überlegt hatte, meinte er, ist nur zerschneidung des ganzen und durch die sinne, fügte er hinzu, als sie wieder darüber sprachen." (GW, 390) Was dort als triumphierende Erkenntnis erscheint, nachdem Bayer in seiner Montage die zeitlichen und räumlichen Grenzen überschritten hat, wird hier wieder in das Bewusstsein des Denkenden, und dieser als Existenz in seine Umwelt eingebettet. Der Satz wird durch die Zeit zerschnitten. Behält das Subjekt Goldenberg recht, indem die Zeit seine Einsicht bestätigt, so bekommt doch die Zeit ihr Recht, indem ihr Ablauf das Objekt Goldenberg in die Schranken weist. Manche über Bayers Werk verstreute Stellen legen den Gedanken nahe, dass die Lösung des Zwiespalts von Bewusstsein und Körper nur im Tod zu finden ist, wenn diese Lösung vom Leben aus betrachtet auch schwierig scheinen mag. "die widersprüche erschienen ihm unlösbar" (GW, 16) schreibt Gerhard Rühm im 'vorwort' zum Gesamtwerk und nennt als erstes Grundthema Bayers die Paradoxie.

'der sechste sinn' (Originaltonaufnahmen, Supposé Verlag Köln 2002)

In "der sechste sinn" führt Konrad Bayer die Auseinandersetzung mit der 'zerschneidung des ganzen' entschieden weiter. Der programmatische Titel verweist auf sein Sich-Hinwegsetzen über die physisch bedingte Abhängigkeit der Wahrnehmung, auf die Befreiung des Bewusstseins aus der 'natürlichen' Begrenztheit der individuellen Existenz. Eingangs steht eine extreme, nach dem Prinzip kombinatorischer Austauschbarkeit verfahrende Montage, der die Bereiche Fest und Katastrophe als Konventionsfolie dienen. Der Leser (und in ironischer Spiegelung auch die Figuren) werden von Bayer mit einer Entgrenzung konfrontiert, die das Normalbewusstsein in Verwirrung bringt. "was will mein körper von mir" und "ich habe den sechsten sinn" halten auch hier den Zwiespalt wach, dem ein dritter, übergeordneter Leitsatz entgegengehalten wird: "wo leben und eigentum bedroht werden, hören alle unterscheidungen auf". Das, worauf dieser letzte Satz zielt, und was im Anfangskapitel nur als unbeholfener Versuch durchschimmert, könnte wie folgt beschrieben werden: "Die Mauer, die die Grenzen des Leibes und seiner Sinne um uns gebaut haben, ist jetzt selbst für den Leib und die Sinne beseitigt, und an ihrer Stelle besteht jetzt die freie Wechselbeziehung innerhalb eines ewigen Einsseins." (9) Löst man dieses Zitat aus seinem in Bayers Werk 'undenkbaren' verklärten Kontext, so wäre es keine schlechte Charakterisierung des beim Schreiben des "sechsten sinns" vor Augen stehenden Themas. Oswald Wieners Bemerkung, das Schreiben sei in der Wiener Gruppe "nicht ein Mittel künstlerischer 'Darstellung' gewesen, sondern ein Instrument zur Untersuchung von Denkvorgängen und für den Schreiber ein natürlicher Hebel zum Hinausschieben seiner im Schreiben ihm merkbar werdenden Vorstellungsschranken" (10), gilt auch für Konrad Bayers Roman, mögen oberflächlich Lesende in ihm eine Darstellung sehen. Syntaktisch betrachtet, haben zahlreiche Abschnitte einen strapazierten, meist parataktischen Periodenbau gemein, der die Einzelheiten durch asyndetische Reihung oder polysyndetische Verknüpfung (die Konjunktion 'und') in einen Wirbel größerer Zusammenhänge aufnimmt, nicht aber in eine Hierarchie, die sie 'sinnvoll' macht. In Bezug auf die Bedingtheit durch Zeit und Raum, bewirkt diese Art zu schreiben, dass der Text den Zwang zum Hier und Jetzt (Augen/blick) im Leseerlebnis bewusst macht und zugleich durch die eigene Gegen-Setzung zu relativieren versucht. Ausdrucksvolle Beispiele sind der für den Roman vorgesehene Text "die birne" (GW, 257ff.) oder der Abschnitt, in dem wenige in Versalien gedruckte Sätze, die einen momentanen Vorgang zwischen Mirjam und Dobyhal beschreiben, durch Ausblicke auf spätere Erlebnisse der Romanfiguren zerschnitten werden. Die Erweiterung ist das Werk des Autors und bleibt partiell, das erstrebte 'ganze' wird, solange man Worte verwendet, immer nur als Distanz und Herausforderung erkennbar.

Die ständig im Roman präsent gemachte – in Wahrnehmung und Sprache gegebene – Verquickung von physischer Welt, in der Kommunikation erzeugter Wirklichkeit und Bewusstsein gibt einen weiteren Aspekt von Konrad Bayers Sprachskepsis frei. Der Roman zieht eine Parallele zwischen der erzwungenen Absolutsetzung des Augenblicks in der Wahrnehmung und der durch gesellschaftliche Konvention entstandenen Tyrannei des Wortes. Diese Einsicht findet ihrer konzentrierteste Darstellung in einem Abschnitt, der leider zu lang ist, um ihn vollständig zu zitieren und den ich hier nicht zerstückeln möchte (siehe GW, 414f.). Die Sprache schränkt die Wahrnehmung (die an sich nicht viel sehen lässt und durch jene bedingt wird) ein, indem sie gleichbleibende Begriffe verwenden lässt für Dinge, die durch deren Einbettung in den Zeitablauf keinen Moment dasselbe sind. Das Wort täuscht Stetigkeit und Identität vor, wo nur 'vernichtende bewegung' ist. Auch diese Erfahrung ist vollauf Teil von Konrad Bayers Art zu schreiben. Häufig verwendet er Verben, die eine 'negativ konnotierte' Zustandsänderung ausdrücken (11) und das Wort, dem sie als Bezeichnung zugeordnet sind, widerlegen: "ein küchenkasten stürzt ein", "fast alle brunnen und flüsse versiegen", "ein regenbogen verbleicht", "salz und zucker zerfliessen", "salz und zucker trocknen ein" (GW, 282). Die Beispiele entstammen der Montage "hermetische geographie", in der die vernichtende Bewegung eine thematische Konstante ist – wenn nicht vom Autor, so doch vom Leser zugefügt. Wenn Begriffe nur punktuelle Fixierungen sind, ihre Unterscheidbarkeit bloß das Produkt einer zufällig sanktionierten Perspektive, muss noch versucht werden, sich aus den lexikalischen Restriktionen zurückzuziehen. Die Verwendung von Wörtern mit weitem Anwendungsbereich (vgl. 'körper', zum Beispiel in "der stein der weisen"), der kaleidoskopische Bilderwechsel und die Vergleichswut (Reihe '... wie...') in Bayers Werk sind Zeichen einer Anstrengung, die von der Sprache gebildeten Entitäten abzutöten, sie willkürlich in Fluss zu bringen, die elektrische Hierarchie der Sätze zu instaurieren.

Lesesäule 'flucht'

Konrad Bayers radikalsten Versuch, die 'zerschneidung des ganzen' schreibend rückgängig zu machen, bildet der Text "flucht" (GW, 276f.), den er als rotierende Lesesäule unter den Körpern der Welt ausstellt. Es scheint, als ob er die Syntax, Differenz und Konvention der Zeichen endlich überwunden hat, der Demiurg sich aus seiner Schöpfung zurückgezogen und sie zur Lektüre hinterlassen hat. Der Sieg des Autors ist die Niederlage des Lesers. Wird dem Leser in "der kopf des vitus bering" das Gefühl einer Entgrenzung vermittelt, so bekommt er hier die eigene Beschränktheit ins Gesicht geschlagen. Nähert er sich dem Text, entgleitet ihm dessen Einheit. Der Zerschneider ist er selbst. Will er die Einheit erreichen, muss er deren Trugbild vernichten. Die Einladung, die sich als falsch erweist, der Vorhang, der geschlossen bleibt, das Foto, das enttäuschen wird: das Fenster, das zum Spiegel wird, der auf seine Zerstörung wartet.

 

Anmerkungen

GW = Konrad Bayer, Das Gesamtwerk, Reinbek: Rowohlt 1977 (das neue buch)

(1) Oswald Wiener, das 'literarische cabaret' der wiener gruppe, in: Gerhard Rühm (Hrsg.), Die Wiener Gruppe, Reinbek 1967, S. 403.

(2) Oswald Wiener, die verbesserung von mitteleuropa, roman, Reinbek 1969, S. CXXXVIII.

(3) Moritz Schlick, Allgemeine Erkenntnislehre, Frankfurt/M. 1979, S. 22 bzw. 31.

(4) Roland Barthes, S/Z, Paris 1970, S. 98.

(5) Vgl. Benjamin Lee Whorf: "Jede Sprache vollzieht dieses künstliche Zerschneiden der kontinuierlich ausgebreiteten und fließenden Wirklichkeit in einer anderen Weise." (Sprache - Denken - Wirklichkeit, Reinbek 1963, S. 54).

(6) Konrad Bayer, tagebuch 1963, in: Peter Weibel & Valie Export (Hrsg.): wien. bildkompendium wiener aktionismus und film, Frankfurt/M. 1970, o.S.

(7) Korzybskis Bild von der Sprache als 'Landkarte' und der Wirklichkeit als Gegend kann in die Irre führen, weil es - wie Wiener bemerkt - "viel zu sehr nach 'außen' gewandt" ist (in: subjekt, semantik, abbildungsbeziehungen, ein pro-memoria, in: Manuskripte 29/30, S. 49). Es handelt sich nach Wiener vielmehr um ein, verkürzt gesagt, in der Kommunikation entstehendes, verinnerlichtes Strukturmodell, das nur von einem sich mit ihr identifizierenden Subjekt für 'Wirklichkeit' gehalten werden kann. Interessant ist der Vergleich von Wieners Ausführungen mit Konrad Bayers "topologie der sprache": "es gibt keine gemeinsamkeiten, nur die sprache schafft gemeinsamkeiten [...] alle meine vorfahren und auch alle anderen haben die sprache zusammengebosselt, haben ihre reaktionen damit eingerüstet und so wurde mit der sprache [...] alles gleich gemacht und nun ist alles das gleiche und keiner merkt es." (GW, 288)

(8) Gerhard Rühm, vorwort, in: Die Wiener Gruppe, Reinbek 1967, S. 28.

(9) Sri Aurobindo, Der integrale Yoga, Reinbek 1957, S. 123. Das Zitat entstammt einem "der supramentale oder der sechste Sinn" überschriebenen Abschnitt des Kapitels "die supramentale Transformation", aus dem Bayer im Index seines "vitus bering" zitiert.

(10) Oswald Wiener, Einiges über Konrad Bayer, in: Die Zeit, 17.2.1978, S. 40.

(11) Manche Grammatiken bezeichnen diese Verben als 'mutative', was nicht schlecht in den Kontext von Konrad Bayers Werk hineinpasst ("mutationen").

(12) "Und da beten sie zu diesen Götterbildern, gerade wie wenn sich jemand mit toten Steinwänden unterhalten wollte. Sie haben eben vom Wesen der Götter und Heroen keine Ahnung." (Heraklit)

Erik de Smedt

oorspronkelijk verschenen in Protokolle (Wenen), 1983/1

 

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