Wolfgang Borchert: ,,Das Brot" (1946)
Vor dem Hintergrund des Kriegsendes und einer vom Krieg gezeichneten Trümmerlandschaft , durch die die Menschen der damaligen Zeit mit zahlreichen existentiellen, moralischen und politischen Fragen und Problemen konfrontiert wurden, verdeutlicht Wolfgang Borchert mit seiner 1946 entstandenen Kurzgeschichte ,,Das Brot" die zerstörende und das Leben jedes einzelnen bedrohenden Auswirkung des Krieges auf den privaten Alltag und die Lebensbedingungen der Menschen.
Anhand eines in Zeiten der Entbehrung und der materiellen wie auch existentiellen Not lebenden Ehepaares veranschaulicht Borchert auf indirektem Wege - eine direkte Benennung von Kriegs- oder Nachkriegsrealität erfolgt nicht, sie muß vielmehr vom Leser durch den Hinweis auf eine Zeit der Hungersnöte und der Lebensmittelrationierung (vgl. 53ff.) erschlossen werden - die zerstörenden Folgen des Krieges auf das Verhältnis dieser beiden Menschen zueinander. Im Mittelpunkt der Geschichte und als einziges Gegenbild zu dieser zerstörenden Wirkung steht das Verhalten der Frau, die mit ihrer verzeihenden und mitleidenden Geste als Ausdruck ihrer wahren Liebe oder Humanität ein Gefühl von Harmonie und Geborgenheit erzeugt: Trotz der Gewißheit, daß ihr Mann sie mit seinem Verhalten hintergangen und belogen hat, stellt sie ihn nicht bloß und verlangt ein Geständnis seiner Tat, sondern erkennt die für den Mann und sie selber beschämende Situation ,geht deshalb rücksichtsvoll auf seine Lüge ein und verzeiht ihm seine aus der Not des Hungers erfolgte Tat.
,,Plötzlich wachte sie auf". Mit diesem parataktischen Satz, der
den Leser völlig unmittelbar, abrupt und ohne Einleitung mit dem Geschehen
konfrontiert, läßt Borchert seine die krisenhafte Situation der beiden Eheleute
ausschnitthaft darstellenden Kurzgeschichte beginnen. Er unterstreicht damit
einerseits, daß es sich bei dem Dargestellten um ein für den einzelnen
bedeutungsvolles und besonderes Ereignis handelt, welches sich ihm als
plötzliche Grenzsituation auftut und eine Entscheidung zum Handeln erfordert,
anderseits wird mit dieser Darstellungsweise auch eine gewisse Spannung und ein
Interesse am Weiterlesen geschaffen.
Das Aufwachen der Frau erscheint hierbei gleichzeitig im übertragenen Sinne,
nicht nur als ein Aufwachen durch ein Geräusch in der Küche hervorgerufen.
Denn genauso ,,plötzlich" muß sich die Frau damit konfrontiert sehen, daß sie
von ihrem Mann hintergangen worden ist, wenn ihr in der Küche bewußt wird, wie
er heimlich etwas von dem rationierten Brot genommen hat.
Das Licht, welches die Frau infolge der Dunkelheit anmacht und welches die
Gestalten beider Ehepartner beleuchtet, sie in ihrer Beziehung zueinander
gegenüberstellt, erscheint somit gleichsam als symbolisches Licht, das auf die
Gemeinschaft der nunmehr schon seit neununddreißig Jahren verheiraten Menschen
fällt.
Die Frau erkennt anhand ,,der Krümel auf dem Tuch" (Z.12), daß sich der Mann von
dem ,,Brot abgeschnitten hatte" (Z.9f.), wie sie es auch später durch sein
leises und vorsichtiges Kauen (vgl.Z.49) erkennen muß. Sie ist sich demnach
bewußt, von ihrem Ehemann hintergangen und belogen worden zu sein. Zunächst ist
es für die Frau ein Bewußtsein, welches sie völlig unvorbereitet gewahr wird und
das in ihr ein Gefühl von Kälte erzeugt; ein Gefühl von Kälte, das symbolisch
das mangelnde Vertrauen des Mannes und damit die fehlende Offenheit betont ,
welches der Frau als befremdlich, als Kälte in ihrer Beziehung erscheint.
Dennoch beabsichtigt sie in dieser Situation nicht, ihren Mann bloßzustellen,
sondern sieht aus Liebe zu ihrem Mann ,,von dem Teller weg" (Z.13f.), um ihm
nicht zu verletzen, ihm trotz seiner Hinfälligkeit ein Gefühl der Achtung zu
geben, indem sie ihn nicht ansieht, ,,weil sie nicht ertragen konnte, daß er
log."(Z.23) Und auch ohne diese Bloßstellung weiß der Mann um seine
Hinfälligkeit, er schämt sich seines Verhaltens wegen, ,,sah wieder so sinnlos
von einer Ecke in die andere" (Z.25f.) und tritt seiner Frau ,,unsicher"
gegenüber.
Insofern beleuchtet Borchert also das Verhältnis der beiden zueinander bzw.
setzt es ins rechte Licht.
Aber das Licht der Küchenlampe leuchtet nur für eine kurze Zeit, denn ,,Sie hob
die Hand zum Lichtschalter." (Z.34), mußte das Licht ausmachen, um nicht nach
dem Teller sehen zu müssen. Und diese Reaktion der Frau ist in diesem Sinne
nicht so zu verstehen, als wolle sie sich über den Zustand ihrer Ehe, der ihr in
einem einzigen Augenblick bewußt geworden ist, nunmehr schnell hinwegtäuschen.
Ganz im Gegenteil sie erfaßt die sie beide peinlich berührende Lage schlagartig,
was ihre Reaktion, ihr Verhalten aber in dieser Situation auszeichnet, ist die
Tatsache, daß sie schweigend und rücksichtsvoll über sein Verhalten wie
selbstverständlich hinwegsieht und ihm keine Vorhaltungen macht. Indem sie die
Hinfälligkeit ihres Mannes einerseits erkennt, aber zugleich als solche
akzeptiert und annimmt, beweist sie mit dem für sie scheinbar
selbstverständlichen und alltäglichen Verhalten im Gegenteil menschliche Größe
und Charakterstärke: Sie nutzt die Situation nicht aus, um ihrem Mann sein
Fehlverhalten vorzuhalten, ihn bloßzustellen und ihm sein Selbstwertgefühl zu
nehmen, sondern gibt ihm - indem sie ,,das Licht jetzt ausmacht" (Z.34), seine
Lüge scheinbar nicht realisiert und sich schlafend stellt, ,, damit er nicht
merken sollte, daß sie noch wach war" (Z.50f.) - ein Gefühl der Geborgenheit und
Sicherheit, durch das er mit all seinen Fehlern geachtet wird.
Und auch ,,am nächsten Abend" (Z.53) verhält sie sich auf diese entgegenkommende
und ihren Mann unterstützende Weise, als sie ihm eine weitere Scheibe Brot
hinlegt, nicht aber aus Eigeninteresse und des Triumphes willen, sondern um
ihrem Mann zu helfen, so gibt sie an entsprechender Textstelle ausredend vor :
,,Ich kann dieses Brot nicht so recht vertragen." (Z.55)
Vom stilistischen und sprachlichen her schenkt Borchert diesem Verhalten seine
Glaubwürdigkeit und Eindringlichkeit durch einen bewußt gewählten, dezenten und
unpathetisch schlichten Erzählton. Diesen erreicht er u.a. mittels der
durchgängig im Text verwendeten parataktischen Satzkonstruktionen , die gerade
keine übermäßig variierten und `verschnörkelten` Satzmuster zulassen und somit
jegliche Wirkung von Übertreibung und `Gekünsteltheit" vermissen lassen, damit
aber auf den Leser um so eindringlicher und betonter wirken.
Außerdem greift Borchert gerade auch bei dem Verhalten der Frau - wie auch bei
dem ihres Mannes - zu vielfachen Wiederholungsfiguren, wobei er gleichzeitig zu
Aussparungen und Verkürzungen greift, durch die der Leser das Hintergründige der
Geschichte zunächst selbst erschließen muß. Die verwendeten Wiederholungsfiguren
- wie z.B. das Symbol des Lichtes; der Teller, von dem sie wegsieht; der
mehrmals wiederholte Satz ,,Ich hab`auch was gehört" (Z.27) sowie auch der
wiederkehrende Verweis auf das Wegsehen der Frau (vgl. Z.13f.) dienen demzufolge
der eindringlichen, andeutenden und hinweisenden Umschreibungen dieses
ausgesparten Hintergründigen. Der Hintergrund erscheint dem Leser auf diesem
emotionalen, kürzeren und direkteren Weg der Wiederholungen leichter und
wirksamer erschlossen als als eine bloße Aufzählung dieses. Die Funktion einer
Schilderung oder möglichen Erklärung dieses Hintergrundes übernehmen in diesem
Zusammenhang auch die verwendeten Adjektive.
Gleichzeitig erhalten die Aussparungen des Hintergründigen und die
Wiederholungen noch eine Bedeutung, die z.T. über den Text hinaus auf die
Nachkriegssituation verweist. Sie drücken eine gewisse Sehnsucht nach jenen
hintergründigen und durch den Krieg und die Zeit des Nationalsozialismus
verlorengegangenen Werten - wie z.B. der Humanität - aus.
So unterschiedlich und kontrastierend das Verhalten der beiden Ehepartner bis
jetzt erscheinen mochte - der Übergriff des Mannes auf die Brotration der Frau
und seine mangelnde Offenheit/ das fehlende Vertrauen einerseits , die
Entscheidung der Frau, auf ihre zweite Scheibe zu verzichten und die ihren Mann
rettende und verständnisvolle Hilfsbereitschaft andererseits - , so zeigt sich
nun jedoch in der Reaktion der Mannes eine bedeutende Gemeinsamkeit: Denn auch
der Mann durchschaut die Aussage der Frau als Ausrede, denn nur so läßt sich
seine Reaktion erklären, daß er sich tief über den Teller beugt und nicht
aufsieht (vgl.Z. 56f.). Beide sind also in unterschiedlicher Art von der
Situation betroffen, beschämt und wollen den anderen nicht verletzen, ihn trotz
der Fehler und Schwächen achten. Angesichts dieser Bedrücktheit empfindet die
Ehefrau keine Genugtuung , sondern sie hat Mitleid mit ihm, ,,In diesem
Augenblick tat er ihr leid."(Z. 57)
Parallel zum unmittelbar beginnenden Anfang gipfelt Borcherts streng linear
erzählte und die weiteren Ereignisse im Leben des Ehepaares offen lassende
Kurzgeschichte mit dem Finalsatz: ,,Erst nach einer Weile setzte sie sich unter
die Lampe an den Tisch."
War es zu Beginn das Licht der Lampe, welches auf das den ´Konflikt` auslösende
Verhalten des Mannes bzw. auf das Verhältnis beider Ehepartner fiel, so ist es
zum Schluß nur noch das Verhalten der Frau, das für den Leser nachhaltig
akzentuiert wird. Denn gerade das selbstverständlich entgegenkommende und den
anderen achtende Handeln ist es, das die ´Konfliktsituation` auszugleichen, zu
lösen vermag und damit - stellvertretend auch für das Verhalten aller Menschen -
als Orientierung für das Handeln und Leben der Zukunft erscheint. Die
Kurzgeschichte verdeutlicht die Möglichkeit , diese beiden Personen als
Stellvertretend für den Menschen, die Gesellschaft an sich zu sehen, indem sie
von ihnen ausschließlich in Form des Personalpronomens erzählt, sie also nicht
durch eine einmalige, unaustauschbare Identität kennzeichnet. Gerade auch für
den damaligen Leser, dem diese Lebensumstände nicht fremd waren, erscheint somit
die Möglichkeit der Identifizierung oder Wiedererkennung mit bzw. in einem der
Verhaltensweisen.
Borchert unterstreicht und betont diese herausragende Bedeutung des Schlusses,
auf den die gesamte Kurzgeschichte zustrebt zudem einerseits durch die
Verwendung einer temporeichen und sehr flüssig wirkenden Sprache, die unter
anderem dadurch entsteht, daß er komplizierte Satzgefüge meidet und durch
parataktische und z.T. asyndetisch aneinandergereihter Satzkonstruktionen umgeht
(vgl. z.B. Z. 1-8 , wobei es sich hier in den Zeilen 7-8 nur noch um elliptische
Satzfragmente handelt). Zum anderen schaffen die vielfachen, variierten und
intensivierend wirkenden Wiederholungen und Reihungen von Kernbegriffen, Motiven,
Einzelwörtern und Sätzen eine Eindringlichkeit, mit der gleichzeitig auf
wichtige Bedeutungszentren von Einzelheiten verwiesen wird. Im Falle des letzten
Satzes ist es das vielfach sich im Text wiederholende Symbol der Lampe bzw. des
Lichtes, welches auf das jeweilige Verhalten der einzelnen Personen aufmerksam
machen soll; für das Textverständnis wichtige Einzeldetails werden somit im
bildlichen Sinne eingekreist.
Trotz oder gerade durch diese schlichte und einfache Sprache wirkt die
Kurzgeschichte aber nicht formlos und vielleicht sogar unharmonisch. Der
harmonische Gleichklang des Textes wird vielmehr durch die Verwendung von
Parallelismen - wie z.B. in Zeile 7f. -, Alliterationen und der Wiederholungen
erreicht.
Für den Leser zeichnet sich diese Kurzgeschichte somit einmal
durch ihre Kürze ,und damit dann auch durch ihre Komplexität aus , welche durch
das geschachtelt wirkende perspektivische Erzählen des Er-Erzählers zusätzlich
unterstützt wird.
Der wegen seiner Kürze intensiv auf den Leser wirkende Text, der Aussparungen
und Raffungen enthält und in dem das Dargestellte um so bedeutungsvoller wird,
erreicht gleichzeitig auch eine Komplexität in der Deutungsmöglichkeit. Der Text
ist somit betont leserbezogen und veranlaßt den Leser damit zum Mitdenken und
zur Mitarbeit, die Aussparungen sinnvoll zu ergänzen , auszufüllen und
Folgerungen zu ziehen .
Begünstigt wird diese Leserbezogenheit nun durch den zwischen auktorialem und
personalem Erzählverhalten wechselnden Er- Erzähler , der an zahlreichen Stellen
das Verhalten der beiden Personen in der direkten Rede des Dialogs vermittelt,
womit eine Art Gegenwartsfiktion geschaffen wird .
Durch die Wiedergabe von inneren Vorgängen (vgl. z.B. die Verben ,,überlegte"
und ,,dachte"), der Gedanken und Empfindungen der Personen wird dem Leser eine
neue Deutungsebene erschlossen bzw. diese erst ermöglicht.
Tjadina Petersen