"Das Wirklichgewollte" von Volker Braun*

Die drei Erzählungen, die der mit dem Georg-Büchner-Preis 2000 ausgezeichnete Volker Braun (*1939) in seinem neuesten Prosaband zusammenbringt, spielen im Gegensatz zu den meisten seiner Arbeiten nicht in Deutschland. Schauplätze der Handlung sind nacheinander Italien, Sibirien und Brasilien. Es scheint, als hätte der kritische Sozialist, der sich seit der Wende 1989 vom Weltlauf verlassen fühlte und seinen Existenzgrund entzogen sah, im Bereich der Fiktion sein Land verlassen. Der autobiographische Konfliktstoff des letzten Jahrzehnts ist jedoch in die Geschichten eingeflossen: dreimal handelt es sich um die enttäuschende Konfrontation auf gesellschaftliche Erneuerung Hoffender mit ganz anders eingestellten Vertretern der jüngeren Generation. Die drei Geschichten haben einen offenen Ausgang: Wer Sieger wird und wer die Niederlage erleidet, bleibt unklar. Deutlich ist nur, dass der Status quo unhaltbar ist. Wer nach dem Zusammenbruch des Kommunismus mit Francis Fukuyama vom Ende der Geschichte redet, hat – so zeigen diese Erzählungen – die in der Welt gärenden und sich nach Lösung sehnenden Kräfte unterschätzt.

Die Titelgeschichte beginnt mit einem an Kleist erinnernden, eine Seite langen Periodensatz, der Idyll und Brutalität vereint. Der emeritierte Professor Giorgio Badini und seine Ehefrau Lucia stoßen bei der Rückkehr vom Abendausflug durch den Olivenhain ihres wunderschönen Landguts in der Toskana auf zwei junge Einbrecher, die sich in ihrer Küche, ausgehungert wie sie offensichtlich waren, voll gestopft haben. Badini beschwichtigt die fauchend autoritäre Frage seiner Frau "Was wollen Sie?" mit einer ruhigen Geste. Er fasst den Jungen und das Mädchen bei der Hand, und einen Moment erstarrt die Szene zum Tableau einer harmonischen Konstellation zwischen Jung und Alt, Eigenem und Fremdem. Die Einbrecher werden nach oben geschickt, am nächsten Tag wird auf dem Hof ein Bad für sie bereitet. Bei Tisch erweisen sich Luisa und Gjergj als albanische Flüchtlinge, und das Ehepaar scheint gewillt, sie als Gäste aufzunehmen. Auf einem wegen der schwierigen Verständigung fast wortlosen Spaziergang kommen sie einander näher. Lucia fühlt sich wie verjüngt, Giorgio durch das Mädchen erotisch gereizt. Am Nachmittag bei der Siesta überraschen sie das junge Paar beim Liebesspiel, was sie durcheinander bringt. Abends philosophieren die Badinis über die Vergänglichkeit, die Anziehungskraft der Erde auf Alte. Konfrontiert mit der harten Wahrheit – "Du stinkst und stirbst" sagt Lucia zu ihm – schlägt Badini seiner Frau ins Gesicht. Wenn er am nächsten Tag Gjergj zu verstehen gibt, dass er fortgehen soll, sticht ihm der Junge ein Messer in die Schulter; zu Hilfe eilend bricht sich Lucia beide Arme. Nach einer Stunde schleichen die jungen Leute ins Zimmer der im Bett liegenden Hilflosen. "Das Ehepaar sah sie mit einem Gefühl der Erleichterung und des Entsetzens an, und Badini fragte: Was wollen Sie?" (24).

Der klassische Erzählstil und die zahlreichen symbolträchtigen Elemente lassen diese in gleichem Maße hoffnungsvolle wie tragische Geschichte über den Bericht von einer spannenden Einzelbegebenheit hinauswachsen. Wie oft in Volker Brauns Werk, haben die scheinbar privaten Ereignisse geschichtsphilosophischen Charakter. Giorgio Badini ist nicht zufällig ein enttäuschter 'linker' Geschichtsprofessor: "Sein Thema: la rivoluzione war ihm abhanden gekommen, denn sie hatte stattgefunden, wo man sie nicht machte.
[...] Er hatte das Interesse an Zeitaltern verloren. Wirft man dem Baum vor, daß er um die Wölbung des Steins herumwächst?" (12). Die gesellschaftliche Befreiung hat sich in seinem Privatleben verwirklicht: "Er, der Sohn eines Maurers, lebte wie ein Fürst" (ebd.). Das Landgut, auf dem er lebt, gleicht dem Garten Eden. "Man konnte hinauskommen, in das Paradies; wenn der Pächter gestorben war und seine Söhne/Knechte das Land verlassen hatten" (16). Badini lebt im Stand der paradiesischen Unschuld, weil er hier nie gearbeitet hat. Seine Lebenshaltung setzt Einverständnis mit der Welt voraus, so lange er in seiner 'Festung Europa' sein Luxusleben beschützen kann. Dennoch gibt es einiges, das ihn um seine trügerische Sicherheit, den Schein eines perpetuierbaren Glückszustands, bringt: sein Altern, und das Fehlen von Nachwuchs ("Meinem Sohn, wenn ich einen hätte haben dürfen" (seufzt) er (14).). Die Eindringlinge bestätigen ihn erst einmal in der 'Wollust seiner Lage' (15), spiegeln ihm auch die Möglichkeit einer Verjüngung vor (eine Erzählellipse Seite 18 suggeriert einen Geschlechtsakt mit Luisa), erfüllen ihn aber zugleich mit Hass darauf, dass seinem Reich – schon allein durch den Lauf der Zeit – ein Ende gesetzt ist. Seine anfängliche Gastfreundschaft verkehrt sich, frustriert wie er ist, in mangelnde Solidarität. Gjergj und Louisa werden von 'Zuwachs' zu bedrohenden Kräften, die er, wie die Vögel von seinem Weinberg, verscheuchen will. Was ihm als Reflex der Selbsterhaltung ("seiner Habe sicher" (19)) erscheint, wendet sich gegen ihn. Er verkennt die menschliche Gleichheit, die ihm die Harmonie der Liebe vorgeführt hat, und die Volker Braun im auffälligen Parallelismus der Namen Giorgio/Gjergj und Lucia/Luisa sinnfällig macht. Bestätigt wird, was Badinis Frau beim abendlichen Gespräch formuliert und ihn so gekränkt hat: "daß wir uns aushalten, daß die Natur uns, daß wir es aushalten. Sonst ist es die Hölle." (22)

Enttäuschung bestimmt von Anfang an die mittlere Geschichte des Triptychons, "So stehn die Dinge". Der Eisenbahningenieur Sachar Baschkin, keine fünfzig, ist mit seiner Frau Warwara vor mehr als 20 Jahren aus Piter nach Sibirien gezogen, um dort am Bau der BAM mitzuarbeiten. Nach Fertigstellung der Strecke ist er dekoriert und entlassen worden und seitdem arbeitslos. "Nach dem Ablauf des Sozialismus in den ungeheuren Gulli" (27) lebt das Paar jetzt in ärmlichen Umständen in einem Waggon an einer aufgegebenen Bahnstation. Eine Bande junger Streuner, zu der auch sein Neffe Sergej gehört, treibt dort ihr Unwesen. Während seine Frau ihn wegen der Aussicht auf ein warmes Bad mit Stepan, einem arbeitslosen und erbitterten Lehrer betrügt, sucht Sachar den Banditen Sergej auf, bindet ihm die Hände und geht mit ihm das Gleis entlang, um ihn vor 'Gericht' zu bringen. Das Verhör, dem er den Asozialen unterziehen will, kehrt sich gegen ihn selbst. Sergej wirft im vor, sein Leben in den Dienst einer sinnlosen Sache gestellt zu haben. Die Strecke ist unnütz geworden. "Jetzt reist das Gesindel, die Mafia! Du hast ihm die Strecke gebaut, Idiot!" (38). Der Junge weigert sich, so zu leben wie Sachar. "Werde ich satt davon?
[...]  Will ich leben wie du? Gibt mir das einen Rubel? Verdammter Alter, will ich so leben?" (39) Die Geschichte endet in größter Verwirrung, ohne Punkt am Ende; Gewalt erscheint unabwendbar.

Die Gleise, die in eine bessere Zukunft führen sollten, verlieren sich im Nichts. Der ehemalige Spezialist für Havarien, immer Herr der Lage, ist aus der Bahn geraten, buchstäblich auf der Strecke geblieben. Braun beschreibt die Brache der Landschaft und die Sinnlosigkeit dieses Lebens in kurzatmigen, ständig durch Beistriche gebrochenen Sätzen, die er wie in seiner Lyrik ab und zu mit kursiv gedruckten Zitaten aus dem rhetorischen Fundus des kommunistischen Staates durchsetzt. Direkte Rede erscheint ohne Anführungszeichen, bruchstückhaft in den Erzählfluss geworfen. Auf den letzten Seiten wird die Verwirrung zwischen dem dialogierenden Angeklagten und dem Ankläger dadurch gesteigert, dass der Hinweis auf den Sprecher unterbleibt und die Vorwürfe austauschbar werden.

"Was kommt?" ist die letzte, essayistischere Geschichte überschrieben – ein Titel, der genauso gut auf die ersten beiden Erzählungen zutreffen könnte. Ein wirbelnder Anfangssatz, in dem das Satzsubjekt irreführend wechselt, erzählt wie Borges, ein neunzigjähriger brasilianischer Architekt, "in einem rebellischen Überdruß" (43) Jorge, einen verschmutzten Straßenjungen, in Rio aufliest. Autoritär zwingt er den schmutzigen Jungen, ein Bad zu nehmen, zieht ihn mit eigener Kleidung an, während dieser vor Scham mit den Tränen kämpft. Borges sieht ein, dass er den 'Fang' nicht wieder fortschicken kann: "sie waren Zeitgenossen. Man konnte (dachte Borges großzügig) auf Dauer nichts aus dem Wege gehen. Man mußte nur die Nacht überleben" (45). Der Junge fürchtet, dem Alten sexuell zu Willen sein zu müssen; das ist aber nicht der Fall. In seinem luxuriösen weltmännischen Appartment fragt ihn der Architekt, was das Schlimmste sei, was er je getan habe. Wenn der Junge antwortet, er sei seiner Mutter weggelaufen und habe die Unschuld seiner Schwester verkauft, widerspricht ihm der Architekt, das größte Verbrechen sei, dass er nicht lesen und schreiben könne. Er schließt den Jungen ein, weil es, wie er denkt, ein Verbrechen wäre, ihn gehen zu lassen. Jorge weiß aber zu entkommen; er will sich nicht vom Alten seiner Straßenfreiheit berauben lassen. Enttäuscht über seinen Zögling resümiert Borges: "Das Jahrhundert hat, was sich denken ließ, getan.
[...] es war alles probiert. Erfindungen, Pläne, Kriege. Unerhörte Verwirklichungen, Vernichtungen. Man hatte, auf allen Kontinenten, alle Ideen verbraucht. Man  hatte Worte gehabt, die nichts mehr galten: revolución in Mexiko, socialismo in Peru, es war immer Kapitalismus gewesen. [...] Und nachdem alles gewesen war, und keine Frage geblieben war, war die Frage: was kommt?" (53). Eine rohe Freude durchfährt den Neunzigjährigen: "werden doch die besten Gebäude auf Ruinen gebaut, und leben kostet den Tod" (54). Da kehrt der Junge mit einer Meute, die ihn treibt, zurück; Borges sieht ihm entgegen - auch diese Geschichte bricht ohne Punkt ab.

Volker Braun   Dem Mittelteil seines 1999 erschienenen
  Lyrikbands Tumulus hat Braun ein Motto von
  Bertolt Brecht mitgegeben:

     "Vergiß nicht, dies sind die Jahre
        Wo es nicht gilt zu siegen, sondern
        Die Niederlage zu erfechten."

 
Die drei Geschichten aus Das Wirklichgewollte scheinen beim ersten Lesen einem Geschichtspessimismus anheimzufallen, der für einen durch die historischen Entwicklungen 'widerlegten' Schriftsteller wie Volker Braun verständlich wäre. Sollte nur die nackte Gewalt einer anarchistischen, ideologiefrei hereinbrechenden Jugend das letzte Wort haben? Dem widersprechen das offene Ende dieser Erzählungen und vor allem ihre dialektische Vielschichtigkeit und verdichtete Sprache, die eine wiederholte Lektüre fordern und ihr auch standhalten. Eins der vielen, in kleinen Variationen wiederkehrenden Bilder dieses Erzählbands ist das Graben eines Loches im Boden. Ein Scharren aus Ratlosigkeit? Eine Antwort geben Borges' Worte aus der letzten Geschichte: "Man war nie und nirgends auf den Grund gekommen, der umzuwälzen war" (53). Für Volker Braun ist die Geschichte ebenso wenig abgeschlossen wie diese drei außergewöhnlichen Geschichten. "Mit meinen Gegnern teile ich nicht die Sorge, daß uns das Thema abhanden gekommen ist - nein, es könnte sein, daß wir dem Thema abhanden kommen", sagt der Autor in Die Verhältnisse zerbrechen, seiner Rede zur Verleihung des Georg-Büchner-Preises 2000 (Sonderdruck edition Suhrkamp, Frankfurt a.M., 29). Sich dem Thema wieder zu nähern ist eine Aufgabe für Leser, die sich nicht durch diese harten aber offenbarenden Geschichten abschrecken lassen.

Erik de Smedt


*Volker Braun, Das Wirklichgewollte, Frankfurt a.M., Suhrkamp 2000. 54 Seiten


erschienen in
Focus on German Studies (University of Cincinnati), Vol. 8 (2001)


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