Bertolt Brecht, "An die Nachgeborenen"




 





     Dauerten wir unendlich
     So wanderte sich alles.
     Da wir aber endlich sind
     Bleibt vieles beim Alten.

 

Bertolt Brecht gilt als der bedeutendste Vertreter einer gesellschaftlich engagierten Literatur im Deutschland des 20. Jahrhunderts. Er wurde 1898 als Sohn eines Papierfabrikdirektors in Augsburg geboren. Nach einer Zeit als Bürgerschreck in München und Berlin, wo seine nihilistisch-expressionistischen Gedichte und Stücke Skandal erregten, entdeckte Brecht 1926 den Marxismus und engagierte sich zunehmend für sozialistisch-kommunistische Gesellschaftskritik. 1933 emigrierte er nach Dänemark, später nach Schweden und Finnland. 1941 floh er vor den Nazis in die USA, wo er sich nach dem Krieg wegen 'unamerikanischen' Verhaltens verantworten musste. 1948 kehrte er nach Ost-Berlin zurück. Dort leitete er seine eigene Theatergruppe, das Berliner Ensemble. Er starb 1956.

Brecht war ein besonders vielseitiger und produktiver Autor. Seine Gesammelten Werke umfassen 20 Bände. Er schrieb gesellschaftskritische Gedichte, Songs, Prosawerke, Lehrstücke und sozial-realistische Dramen (Dreigroschenoper, Mutter Courage und ihre Kinder, Leben des Galilei). Er entwickelte ein 'episches', anti-illusorisches Theater, in dem Verfremdungseffekte den Zuschauer aus den ihm gewohnten Vorstellungen aufschrecken und zum kritischen Nachdenken bewegen sollen. Brecht betrachtete die Literatur als Waffe im Kampf für eine bessere Welt. Als Marxist träumte er von einer klassenlosen Gesellschaft, in der es kein Unrecht und keine Unterdrückung mehr gibt und alle Menschen gleich sind. Zugleich war er weise genug, seine Prinzipien zu relativieren. In einem Interview antwortete er auf die Frage, welches Buch ihn am meisten beeinflusst habe: "Sie werden lachen: die Bibel."

Das Gedicht An die Nachgeborenen, das er in den dreißiger Jahren im dänischen Exil geschrieben hat, ist eine Art 'geistiges Testament', in dem Brecht die Bilanz seines Lebens zieht. Es steht im Lyrikband Svendborger Gedichte.
 

 An die Nachgeborenen   Vortrag
 
 I   
 Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! 
 Das arglose Wort ist töricht. Eine glatte Stirn 
 Deutet auf Unempfindlichkeit hin. Der Lachende 
 Hat die furchtbare Nachricht 
 Nur noch nicht empfangen. 
 
 Was sind das für Zeiten, wo 
 Ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist 
 Weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt! 
 Der dort ruhig über die Straße geht 
 Ist wohl nicht mehr erreichbar für seine Freunde 
 Die in Not sind? 
 
 Es ist wahr: Ich verdiene nur noch meinen Unterhalt 
 Aber glaubt mir: das ist nur ein Zufall. Nichts 
 Von dem, was ich tue, berechtigt mich dazu, mich sattzuessen. 
 Zufällig bin ich verschont. (Wenn mein Glück aussetzt, bin ich verloren.) 
 
 Man sagt mir: Iss und trink du! Sei froh, dass du hast! 
 Aber wie kann ich essen und trinken, wenn 
 Ich dem Hungernden entreiße, was ich esse, und 
 Mein Glas Wasser einem Verdursteten fehlt? 
 Und doch esse und trinke ich. 
 
 Ich wäre gerne auch weise. 
 In den alten Büchern steht, was weise ist: 
 Sich aus dem Streit der Welt halten und die kurze Zeit 
 Ohne Furcht verbringen 
 Auch ohne Gewalt auskommen 
 Böses mit Gutem vergelten 
 Seine Wünsche nicht erfüllen, sondern vergessen 
 Gilt für weise. 
 Alles das kann ich nicht: 
 Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten! 
 
 
 II 
 
 In die Städte kam ich zur Zeit der Unordnung 
 Als da Hunger herrschte. 
 Unter die Menschen kam ich zu der Zeit des Aufruhrs 
 Und ich empörte mich mit ihnen. 
 So verging meine Zeit 
 Die auf Erden mir gegeben war. 
 
 Mein Essen aß ich zwischen den Schlachten 
 Schlafen legte ich mich unter die Mörder 
 Der Liebe pflegte ich achtlos 
 Und die Natur sah ich ohne Geduld. 
 So verging meine Zeit 
 Die auf Erden mir gegeben war. 
 
 Die Straßen führten in den Sumpf zu meiner Zeit. 
 Die Sprache verriet mich dem Schlächter. 
 Ich vermochte nur wenig. Aber die Herrschenden 
 Saßen ohne mich sicherer, das hoffte ich. 
 So verging meine Zeit 
 Die auf Erden mir gegeben war. 
 
 Die Kräfte waren gering. Das Ziel 
 Lag in großer Ferne 
 Es war deutlich sichtbar, wenn auch für mich 
 Kaum zu erreichen. 
 So verging meine Zeit 
 Die auf Erden mir gegeben war. 
 
 
 III 
 
 Ihr, die ihr auftauchen werdet aus der Flut 
 In der wir untergegangen sind 
 Gedenkt 
 Wenn ihr von unseren Schwächen sprecht 
 Auch der finsteren Zeit 
 Der ihr entronnen seid. 
 
 Gingen wir doch, öfter als die Schuhe die Länder wechselnd 
 Durch die Kriege der Klassen, verzweifelt 
 Wenn da nur Unrecht war und keine Empörung. 
 
 Dabei wissen wir doch: 
 Auch der Hass gegen die Niedrigkeit 
 Verzerrt die Züge. 
 Auch der Zorn über das Unrecht 
 Macht die Stimme heiser. Ach, wir 
 Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit 
 Konnten selber nicht freundlich sein. 
 
 Ihr aber, wenn es soweit sein wird 
 Dass der Mensch dem Menschen ein Helfer ist 
 Gedenkt unsrer 
 Mit Nachsicht. 

 

 
Fragen zum Gedicht

1.  Welche Stellen verweisen auf die Zeit, in der Brecht lebte? Vgl. die Zeittafel des Kaiserreichs, der Weimarer Republik und der Nazi-Periode.

2.  Wo formuliert Brecht seine Ideale?

3.  Der Literaturwissenschaftler Martin Esslin gab seinem Buch über Brecht den Titel Das Paradox des politischen Dichters. Worin besteht dieses Paradox, und wo finden Sie es hier zurück?

4.  Brechts Lyrik wird oft gelobt wegen ihrer nüchternen, jede Form von Sentimentalität meidenden Diktion. Geben Sie ein paar Beispiele.

 


Mehr über Brecht: Biographie: Bertolt Brecht, 1898-1956



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