Erweiterung des Romanbegriffs: Walter Höllerers "Elephantenuhr"


Am Ende von Walter Höllerers Roman Die Elephantenuhr (1973) sprengt Gustaf Lorch, bis dahin ein nach außen hin ruhiger Museumsangestellter, den Museumsneubau und das Schillerdenkmal seiner Kleinstadt Murrbach in die Luft, worauf er befreit verzeichnet: "Jetzt könnte ich mein Manuskript über G fertigstellen, und ich könnte den Entwurf einer Semiologie beginnen." Ein Explosionsakt als Voraussetzung für das Schreiben? Wer die 534 vorangehenden Seiten hinter sich hat, erkennt, dass dies nicht nur für den Helden, sondern ebensosehr für den Autor der Elephantenuhr zutrifft. Inwiefern das Buch den traditionellen Romanbegriff sprengt, wie es dazu kommt, welche Möglichkeiten sich daraus ergeben, und ob sich Vorbilder und Parallelen dazu finden lassen – diese Fragen sollen uns hier beschäftigen.


Umschlag '"Die Elephantenuhr" (Walter Höllerer)

Wie sehr die Urteile über Die Elephantenuhr auch auseinandergehen, in einem Punkt sind sich die meisten Rezensenten auffallend einig: das Buch sei kein Roman. Vielmehr handle es sich um einen Essay und ein in lyrischer Prosa geschriebenes langes Gedicht, ein Potpourri verschiedenster Textsorten oder gar ein Drehbuch für einen satirischen Film. Trotdem trägt das Titelblatt die Bezeicnung "Roman" nicht unberechtigt, wie eine kurze Strukturbetrachtung zeigt. Zum Mindestbestand dessen, was man sich traditionell unter Roman vorstellt, gehören ja ein sich in Raum und Zeit vollziehender Handlungsablauf mit verschiedenen Personen und eine mehr oder weniger groβe Distanz des Erzählers zu der von ihm vermittelten fiktiven Welt. Diese minimalen Gattungskomponenten lassen sich relativ leicht in der Elephantenuhr zurückfinden.

Fingierter Erzähler ist der Museumsangestellte Gustaf Lorch, der in der 1. Person von seiner eigenen Vergangenheit berichtet; es liegt also eine Ich-Erzählsituation vor, bei der Held und Erzähler identisch sind. Die Handlung erstreckt sich auf eine Herbstwoche des Jahres 1972, von einem Sonntagnachmittag bis zum nächsten Sonntagabend, die Geschehnisse dieser Woche werden chronologisch erzählt. Hauptort der Handlung ist die Kleinstadt Murrbach, weitere Schauplätze bilden Frankfurt a.M., Göttingen und Berlin. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Gustaf Lorch, der mit den anderen Figuren – Kollegen, Freundinnen und Bekannten – in Verbindung tritt. Das Geschehen spiegelt den Alltag eines Angestellten und hat, von der Sprengung am Ende abgesehen, wenig Aufsehenerregendes: Arbeit an der Vorbereitung einer Ausstellung, Begegnungen, Spaziergänge, eine Dienstfahrt. Zwischenfälle im Romanablauf bringen nur die Nachricht vom Tod des alten Storch und der Brief des Museumskuratoriums; allein letzterer hat Folgen für das weitere Geschehen.

Trotz der eher geringen Entfaltung herkömmlicher epischer Möglichkeiten entspricht Die Elephantenuhr den an einen Roman gestellten Mindestanforderungen. Mehr noch, das Werk realisiert einen bestimmten Typus der Gattung. Von den ersten beiden, durch volle und mittlere Satzbreite charakterisierten Textsträngen, die Lorchs Bericht sowie die Tonbandabschriften seiner Gespräche und Monologe umfassen, hebt sich durch geringe Satzbreite ein dritter Textstrang ab, der eine große Selbständigkeit aufweist. Er enthält in der Form einer Er-Erzählung die fragmentarische Geschichte des Gelehrten G. Dieser blickt vom römischen Testacciohügel aus auf einzelne Stationen seines Lebens zurück und vergegenwärtigt sich seine Erlebnisse und Erfahrungen in Paris, Rom, Catania usw. Obwohl der G-Strang, was Zeit, Raum, Figuren und Handlung betrifft, grundsätzlich vom anderen Handlungsstrang abweicht, gibt es eine Verbindung zwischen beiden. Der Erzähler der G-Geschichte ist nämlich der Held und Erzähler des ersten Stranges, Gustaf Lorch, der Teile aus dem Manuskript über seine Obsessionsfigur dem Bericht über sich selber beifügt. Die Elephantenuhr zeigt somit die typischen Merkmale des Doppelromans: zwei weitgehend selbständige Haupterzählstränge, Duplikation der Zeit-Raumstruktur und der Personen, personale Abhängigkeit des einen Stranges von dem anderen und schließlich korrelative Verknüpfung der beiden Hauptstränge, so dass sich die Vorgänge ineinander spiegeln.

Obwohl der Ausspruch der Kritik, Die Elephhantenuhr sei kein Roman, durch das Vorhandensein dieser Strukturkomponenten entkräftet wird, ist der Zweifel am Romancharakter aus verschiedenen Gründen verständlich. Am auffallendsten ist die Tatsache, dass der normale Handlungsverlauf mit nicht-erzählenden Partien essayistischer und lyrischer Art durchsetzt wird. Die eigentliche Geschichte, die Entfaltung äußeren und inneren Geschehens, erfüllt nur noch eine untergeordnete Funktion und büßt für die Interpretation ihre normalerweise primäre
Relevanz ein. Im Lorch-Strang überwiegen reflexive, erörternde Partien, die sich durch das Anliegen des Helden, die Vorbereitung einer umfassenden semiologischen Ausstellung, legitimieren. Durch den universalen Charakter seines Semiologiebegriffs wird Lorch gleichsam alles, auch die Geschehnisse seines Alltags- und Privatlebens, zum Gegenstand der Reflexion. Die meisten Figuren erscheinen nicht als handelnde oder erlebende, sondern als redende und denkende Wesen. Geschehnisse (so die Liebesnacht mit Katharina, die Fahrt auf der Autobahn, der Flug Berlin-Frankfurt) fungieren als auslösendes Moment für weitere Reflexionen, die oft sogar den Charakter wissenschaftlicher Darstellungen annehmen. Der G-Strang stellt in gewisser Hinsicht das Gegenbild zum anderen Erzählstrang dar. Der ausgedehntere Zeitraum und der große Erfahrungsbereich des Weltreisenden G bergen die Möglichkeit ereignisreicher Geschichten in sich. Solche kommen auch vor, denken wir an den Vorfall mit dem Affen Ciocco oder die Präsidentenwahl. Meistens jedoch bleiben kausale Geschehensabläufe im Ansatz stecken, werden überblendet durch Erinnerungsbilder, Dialogfetzen, Vorstellungen und Gedanken. Dieser Verzicht auf das Erzählen, das Durchsetzen und bisweilen der Ersatz der Fabel durch Reflexion und Momentaufnahmen lösen das herkömmliche Romanschema auf.

Hinzu kommt die Umwerfung des hierarchischen Stellenwerts einiger Komponenten. Bestandteile, die traditionell eine unterstützende Funktion im Roman haben, werden aus der Abhängigkeit vom Hauptgeschehen emanzipiert. Psyhologie z.B. begegnet weniger in der Gestaltung der auftretenden Fuguren als vielmehr explizite in gesonderten Einzelnotizen und Analysen wie etwa im Ehemodell von Anna und Tadäus Kraut (246ff), das an sich einen kondensierten psychologischen Roman bildet. Im G-Strang gewinnen Momentaufnahmen, Wetterschilderungen und Wirklichkeitsausschnitte eine Bedeutung für sich, ohne dass sie mit der Lage der Figuren in einer direkt sinnfälligen V (eerbindung stehen.

Im Unterschied zur klassischen Romanstruktur mit den klar konturierten, oft kontrastierenden Gestalten wird in der Elephantenuhr die Selbständigkeit der Figuren abgebaut. Nicht nur haben die wichtigsten Figuren des Lorch-Stranges einen Doppelgänger im G-Strang, wobei die Parallelen schon im Namen zum Ausdruck kommen (Vollname gegenüber Schrumpfform), – es findet sich zwischen fast allen Figuren des Romans eine bemerkenswerte Promiskuität der Erfahrungen und
Ideen. Eine Gestalt rückt mit Gedanken heraus, wie sie eine andere schon im selben Sinn geäußert hat. Mehrere Figuren – so vor allem Lorch, G, Dr. Preuss, Ipkin, Praudszus und der alte Storch – bekunden ähnliche Nöte, Wünsche ud Vorstellungen, andere haben entsprechende Erlebnisse.

Ein letzter Faktor, der der herkömmlichen Romanvorstellung zuwiderläuft, betrifft das Verhältnis Fiktion – Realität. Die üblicherweise sich durch Fiktion von der Realität abkapselnde, möglichst geschlossene Romanwelt wird in der Elephantenuhr gerade durch dieHereinnahme einzelner Realien eng mit der gegenwärtigen Wirklichkeit verbunden und somit entfiktionalisiert. Diese Wirklichkeitsnähe äußert sich in de Räumlichkeiten des Romans, die fast ausnahmslos eine reale Entsprechung haben weiter in der Erwähnung realer Personen, Institutionen und Ereignisse, schließlich in der Übernahme vorgefundenen Sprachmaterials (Inschriften, Verordnungen, Schlagerfetzen, Presse- und Funkmeldungen usw.).

Es hat sich gezeigt, dass der Elephantenuhr (entgegen der Behauptung
mancher Kritiker) ein traditionelles Romanschema zugrundeliegt, dass aber zugleich durch den Verzicht aufs Erzählen, durch den Ersatz der Fabel durch Reflexion, durch Schwerpunktverschiebung in der Komposition, durch den Abbau der eigenständigen Romanfigur und durch Entfiktionalisierung im Buch selber gesprengt wird. Zu fragen ist, wie es zu der Auflösung der traditionellen Romanbegriffs kommt, woher sie sich legitimiert.

1971 legte Richard Salis einer Reihe von Autoren die Frage vor: "Warum schreiben Sie?" Walter Höllerer gab seinem Beitrag zu der daraus hervorgegangenen Anthologie Motive (Tübingen 1971, S. 157f) den programmatischen Titel "Schreiben gegen die Zensur". Dieser Text, der fast vollständig im Roman wiederkehrt (466ff), ist besonders aufschlussreich in bezug auf die Intention des Autors beim Schreiben der Elephantenuhr. Höllerers Antrieb zum Schreiben, so fällt gleich auf, ist kein ästhetischer, sondern ein ethischer. "Was trägt das bei zum Weiterleben, zur Glücksvermehrung..." fängt der Text an und geht weiter: "Ich schreibe, weil ich kein anderes Mittel weiß gegen die Zensur, die uns mit anonymen Mitteln unter dem Daumen hält". Unter Zensur ist dabei nicht das moralisch-politische Verbot von Amts wegen zu verstehen, sondern vielmehr eine Selbstzensur, die entsteht aus Rücksicht gegenüber den herrschenden Meinungen, schon beim Denken anfängt und sich beim Formulieren in der Öffentlichkeit verstärkt. Literatur könne demgegenüber eine befreiende Wirkung haben, indem sie unbeschränkt ausspricht, was sonst verschwiegen wird.

    Schreiben für die und mit denen, denen das Wort abgeriegelt wird in einer        
     immer mehr zugedeckten, zensierten Welt, und so, wie wir uns anstrengen,
     Welt und Atom zu erfassen, sollten wir uns nicht scheuen, uns selbst und unsere
     Soziabilität mit ihren Verwicklungen zu erfassen, Augen, Nasen, Münder,
     Ohren, und wie sie verletzt werden.

Dazu sei allerdings auch Misstrauen vonnöten gegen die durch das
Medium Literatur im Laufe der Tradition entwickelte Zensur, soweit sie hermetisch-elitär gewordene Kategorien wie die des Helden hervorgebracht hat.

    Also Schreiben, an die Stelle von Helden Leute setzen. Immer wieder an die
     Stelle von stilisierten, zurechtzensierten Helden Leute setzen, ob nun in Prosa
     oder Dialog oder Versen oder in der Unterhaltung, in Analysen, in einer nicht
     eng begrenzten Literatur, die in den Alltag hineinreicht, die in Politik und
     Wissenschaft übergeht, ein neuer Literaturbegriff.

Damit wird die Literatur zu einem Freitraum, in dem Erkenntnisleistung und Wirkungsmöglichkeit das in sich ruhende Sprachkunstwerk, Doderers "roman muet", ablösen.

Es liegt auf der Hand, dass der traditionelle Romanbegriff der Realisierung einer solchen literarischen Intention im Wege steht. Das Geschichten-Erzählen als Hauptaufgabe des Romans hat schon eine so lange Tradition hinter sich, dass eine wirksame neue Erzählung nur durch die Erfindung immer ausgefallener Enzelschicksale und
schreibtechnischer Raffinements zustandekommen kann. Dadurch entfernt sich das Werk aber stets weiter von der Realität und wird für den Leser letztlich unverbindlich. Höllerer hat wohl die Gefahr einer derartigen literrischen Entwicklung eingesehen, als er sich entschloss, die Ende der fünfziger Jahre entstandene erste Fassung der Elephantenuhr – ein ins Surrealistisch-Verschrobene hinein fiktionalisiertes Psychogramm – nicht zu veröffentlichen, weil ihm (so eine mündliche Mitteilung) "daran die Realität fehlte". Der Roman selbst thematisiert an verschiedenen Stellen die Absage ans unverbindliche Fabulieren. So sagt Lorch einmal: "Ich wünsche mir das Ungeschoren-werden-lassen von Trugbildgestalten. Insbesondere die Verhinderung der Verlebendigung von erfundenen Personen." (133) Und G: "Ach, erzählen willst du! (...) Geschichten! Geschichten! Als ob die kurz aufleuchtenden Vorgänge, jetzt, nicht aufschlussreicher wären, als das abgeschliffen Gestapelte im Lang-Zeit-Gehirn!" (297)

Diese nahezu anti-literarische Haltung wird nicht um ihrer selbst willen eingenommen, sondern zu dem Zweck, den Roman für die veränderte, komplexer gewordene Realität zu öffnen, also von der Forderung eines zeitgemäßen Realismus her. Da aber das bloße Abbilden von Realität allein schon deshalb fragwürdig geworden ist, weil die heutige Realität zum großen Teil eine vermittelte ist, beschäftigt sich der Autor mit den Voraussetzungen des – erkennenden wie handelnden – Zugangs zur Wirklichkeit. Diese Auseinandersetzung findet nicht in Analysen oder Erklärungen außerhalb des Werkes, sondern im Roman selber statt. In der Elephantenuhr wird sie konkret demonstriert in Gustaf Lorchs Arbeit an einer Semiologie, die nicht mit einer technisch-wissenschaftlichen Zeichenlehre gleichzusetzen ist, vielmehr ein umfassendes Erkenntnis- und Kommunikationssystem bildet. Indem die Semiologie freilich von Zeichen sprachlicher und nicht-sprachlicher Art ausgeht, ermöglicht sie Höllerer, sowohl existierende, sprachlich fixierte wissenschaftliche Erkenntnisse und ideologische Ansichten einzubeziehen und gegebenenfalls zu kritisieren wie auch neue Bereiche zum Gegenstand der Reflexion zu machen.

Gegenüber der etablierten Wissenschaft hat ein derartig erweiterter Roman den Vorteil, sich über die durch rigorose methodologische Forderungen und strikte Trennung der Objektbereiche entstandene Einseitigkeit – schon durch die subjektive Auswahl des Autors – hinwegsetzen zu können. Da er nicht eine bestimmte Darstellungsweise, sondern alle bestehenden Gattungsformen (wie Essay, Dialog, Erzählung, lyrische Momentaufnahme) ins Spiel bringt, vermag er außerdem die reflexive Erkenntnis mit direkter Wirklichkeitswiedergabe zu konfrontieren. Die Darstellung des Alltags, der gemeinhin als nicht erzählenswert gilt, bekommt hier, besonders im Ausspielen gegen Ideologie, eine wichtige Rolle. Dadurch, dass nicht die erfundene private Problematik einiger Figuren erzählt wird, sondern die Problematik der Figuren die universelle zeitgenössische Problematik wiedergibt, wird der Roman ungemein verbindlich. Die fundamentale Fragestellung, die verringerte Distanz zwischen Romanwelt und realer Wirklichkeit und die weitgehende Identifikation zwischen Autor, Erzähler, Romanfigur und Leser verhindern, dass die Botschaft des Romans in seinem Kampf gegen die Zensur als "doch nur Literatur" entschärft wird.

Die Gefahr der Abstraktion und des Monologischen, die der im Roman betriebenen "Grundlagenforschung" anhaften könnte, hat Höllerer auf mehrfache Weise vermieden. Er behält die Romanform bis zu einem gewissen Grade bei, um die behandelten Probleme und Lösungen als von Menschen in deren unerschöpften Widersprüchen erlente vorzuzeigen. Der Erklärungsanspruch der Reflexionsergebnisse wird noch stärker dadurch herausgefordert und relativiert, dass der Autor an zahlreichen Stellen Momente von intensivem Wirklichkeitsgehalt evoziert. Gefundene Texte, Geschehnisse, Phantasiebilder und Hintergrundfiguren wie die Elephanten stehen in erster Linie für sich da, als Zeugnisse der Realität, ohne dass sie eine weitere symbolische Funktion im Roman erfüllen. Gerade diese Dimension macht die Bedeutung des G-Stranges gegenüber dem reflexiver und diskursiver entwickelten Lorch-Strang aus. Der Literaturcharakter, den Die Elephantenuhr trotz aller Grenzüberschreitungen nicht verleugnen kann, wird einerseits durch eine Fülle von literarischen Anspielungen und Zitaten bewusst gemacht, andererseits wieder aufzuheben versucht durch einen Sprachgebrauch, der sich an der mündlichen Rede orientiert. Zwischen Reflexion und Leben, Fiktion und Realität hin- und herschwingend, erreicht Die Elephantenuhr so die angestrebte Synthese
einer sinnlichen Erkenntnis.

Abschließend erhebt sich die Frage, inwieweit es Vorbilder und Parallelen für die der Elephantenuhr zugrundeliegende Erweiterung des Romanbegriffs gibt. In der Geschichte des deutschen wie europäischen Romans lassen sich schon früh bei verschiedenen Autoren Versuche zur Sprengung des festgelegten Erzählschemas beobachten. Erinnert sei an die Tradition des enzyklopädischen Romans, in dem Bildungsstoff und Reflexion über das Normalmaß hinaus selbständige Bedeutung gewinnen, von der Geschichtsklitterung Johann Fischarts (selbst ein Nachfolger von Rabelais), über die großen Romane von Laurence Sterne und Jean Paul bis zu James Joyce's Ulysses. Friedrich Schlegel forderte 1798 eine romantische "Universalpoesie", die nicht nur "alle getrennten Gattungen der Poesie wieder vereinigen" sondern auch "die Poesie mit der Philosophie und Rhetorik in Berührung setzen" sollte. Sein eigener, Fragment gebliebener Roman Lucinde, der so gut wie keine Handlung besitzt, ist eine Mischform aus Phantasien, Reflexionen, Briefen und Aufzeichnungen. Heine löste in seiner Prosa die Trennung zwischen den Gattungen weiter auf und relativierte das herkömmliche Erzählen durch die Einblendung von Wirklichkeitsmomenten und Reflexionspartikeln. Der erkenntnistheoretische Anspruch, den Autoren wie R. Musil, H. Broch und Th. Mann im 20. Jahrhundert an die Gattung stellten, hat die Verwissenschaftlichung und objektivierende Darstellung des Romans eingeleitet. All diesen Versuchen ist aber gemeinsam, dass sie den Kunstcharakter des Romans als eines von der Realität abgehobenen ästhetischen Gebildes beibehalten.

Für die festgestellte Sprengung der Grenze zwischen Literatur und Leben, Illusion und Realität findet sich ein wichtiges Vorbild außerhalb der Literatur beim Vater der Anti-Kunst, bei Marcel Duchamp. Duchamp verzichtete auf die traditionell vom Künstler erwartete Fortbringung ästhetischer Gebilde mit kanonisierten (Mal- oder Bildhauer-) Mitteln, indem er mit seinen Ready-mades anstelle von Kunstobjekten reale, jedem geläufige Gebrauchsgegenstände präsentierte. Er hat dadurch den Schritt vollzogen von einer emotionalen, illusionistischen Kunst zu einer mentalen, die den Betrachter nicht ein subjektives Abbild der Wirklichkeit anschauen lässt, sondern ihn zur Reflexion über die Realität selber bringt. Das direkte Darbieten von Realität, gerade auch der alltäglich gelebten, als Auslöser von Bewusstseinsprozessen beim Leser istauch das Vorhaben der Elephantenuhr. Die Bemühungen der Hauptfigur konzentrieren sich nicht ohne Grund auf eine Ausstellung, in der die Besucher ihre eigene Umwelt wiederfinden sollen. An einer Stelle im Roman beschreibt Höllerer die Wirkungsabsicht eines Exponats sogar mit einem Zitat von Edward Kienholz zu einem der konzeptuellen "Tableau"-Assemblagen (The God Box, 1963): "Gedanken über organisierte Religionen anzuregen und darüber, was sie der Zivilisation angetan und was sie für sie getan haben." (129f)

Die Erweiterung des Romanbegriffs, die durch den Abbau der fiktiven Geschichte und die Öffnung zur Wissenschaft und zum Alltag hin eine radikal)kritische Problemstellung ermöglicht, bleibt in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht auf Walter Höllerers Elephantenuhr beschränkt. Vielmehr liegt sie als unterschwellige Tendenz verschiedenen Romanen der letzten zehn Jahre zugrunde, wenn sie auch auf unterschiedliche Weise literarisch zum Ausdruck kommt. Zwei solcher Möglichkeiten seien zum Schluss kurz angedeutet. In Oswald Wieners 1969 erschienener die verbesserung von mitteleuropa, roman sind Handlung und Figuren in einige reservathafte Erzähleinschübe zurückgedrängt, die die aphoristisch-essayistisch fortschreitende Reflexionsprosa kaum unterbrechen. Das Ritual einer wissenschaftlichen Abhandlung parodierend, polemisiert Wieners Roman gegen die Organisation der Wirklichkeit durch die Sprache, die nicht nur authentisches Leben und Denken verhindert, sondern auch das Individuum durch den gesellschaftlichen Kommunikationszwang normiert und somit unterdrückt. Der Autor vermittelt diese Erkenntnisse nicht auf dem Umweg einer auf eine Botschaft hin zu entschlüsselnden Geschichte, sondern indem er von sich aus den Leser unmittelbar anspricht und die gemeinsame Problematik explizite analysiert. Wieners weitgehender Verzicht aufs Romanhafte, kombiniert mit der ungemein intensiven, anarchischen Reflexion, dürfte in seiner Radikalität das Limit dieser Tendenz darstellen.

Weniger extrem, dafür durch ihre Lesbarkeit publikumswirksamer sind die letzten Romane des Grazer Autors Helmut Eisendle. In seinem 1976 veröffentlichten Roman Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand gibt es Personen, Örtlichkeiten und eine, wenngleich geringe, Fabel. Wie bei Höllerer wird die Handlung oft durch Dialoge und Reflexionen ersetzt. Die vorgeführte Fiktion von den beiden Freunden Schubert und Estes, die sich auf Urlaub an der Mittelmeerküste über die Schwierigkeiten ihrer Existenz und ihr Unbehagen an den Systemen unterhalten, ist aber nur Schein. Die auf den ersten Blick fiktive Geschichte erweist sich als Vorwand, die zufällige, individuelle Problematik der Figuren wird zu einer typischen, allgemeingültigen – Autor wie Leser gleichermaßen betreffenden – Bestandsaufnahme. Damit lässt sich auch im traditionell erzählenden Roman die Ausweitung zurückfinden, die sich bei Höllerer deutlich an der Oberfläche der Romanform manifestiert. Die Sprengung, von der hier die Rede war, hat – so zeigt sich – auch den scheinbar unberührt gebliebenen Roman erschüttert.

Erik de Smedt

In: Duitse kroniek, Jg. 31 Nr. 1 (April 1980), S. 35-43