Erweiterung des Romanbegriffs: Walter Höllerers "Elephantenuhr"
Am Ende von Walter Höllerers Roman Die Elephantenuhr (1973) sprengt
Gustaf Lorch, bis dahin ein nach außen hin ruhiger
Museumsangestellter, den Museumsneubau und das Schillerdenkmal seiner Kleinstadt
Murrbach in die Luft, worauf er befreit verzeichnet: "Jetzt könnte ich mein
Manuskript über G fertigstellen, und ich könnte den Entwurf einer Semiologie
beginnen." Ein Explosionsakt als Voraussetzung für das Schreiben? Wer die
534 vorangehenden Seiten hinter sich hat, erkennt, dass dies nicht nur für den
Helden, sondern ebensosehr für den Autor der Elephantenuhr zutrifft.
Inwiefern das Buch den traditionellen Romanbegriff sprengt, wie es dazu kommt,
welche Möglichkeiten sich daraus ergeben, und ob sich Vorbilder und Parallelen
dazu finden lassen – diese Fragen sollen uns hier beschäftigen.
Wie sehr die Urteile über Die Elephantenuhr auch auseinandergehen, in
einem Punkt sind sich die meisten Rezensenten auffallend einig: das Buch sei
kein Roman. Vielmehr handle es sich um einen Essay und ein in lyrischer Prosa
geschriebenes langes Gedicht, ein Potpourri verschiedenster Textsorten oder gar
ein Drehbuch für einen satirischen Film. Trotdem trägt das Titelblatt die
Bezeicnung "Roman" nicht unberechtigt, wie eine kurze Strukturbetrachtung zeigt.
Zum Mindestbestand dessen, was man sich traditionell unter Roman vorstellt,
gehören ja ein sich in Raum und Zeit vollziehender Handlungsablauf mit
verschiedenen Personen und eine mehr oder weniger groβe
Distanz des Erzählers zu der von ihm vermittelten fiktiven Welt. Diese minimalen
Gattungskomponenten lassen sich relativ leicht in der Elephantenuhr
zurückfinden.
Fingierter Erzähler ist der Museumsangestellte Gustaf Lorch, der in der 1.
Person von seiner eigenen Vergangenheit berichtet; es liegt also eine
Ich-Erzählsituation vor, bei der Held und Erzähler identisch sind. Die Handlung
erstreckt sich auf eine Herbstwoche des Jahres 1972, von einem Sonntagnachmittag
bis zum nächsten Sonntagabend, die Geschehnisse dieser Woche werden chronologisch
erzählt. Hauptort der Handlung ist die Kleinstadt Murrbach, weitere Schauplätze
bilden Frankfurt a.M., Göttingen und Berlin. Im Mittelpunkt der Geschichte steht
Gustaf Lorch, der mit den anderen Figuren – Kollegen, Freundinnen und Bekannten
– in Verbindung tritt. Das Geschehen spiegelt den Alltag eines Angestellten und
hat, von der Sprengung am Ende abgesehen, wenig Aufsehenerregendes: Arbeit an
der Vorbereitung einer Ausstellung, Begegnungen, Spaziergänge, eine Dienstfahrt.
Zwischenfälle im Romanablauf bringen nur die Nachricht vom Tod des alten Storch
und der Brief des Museumskuratoriums; allein letzterer hat Folgen für das
weitere Geschehen.
Trotz der eher geringen Entfaltung herkömmlicher epischer Möglichkeiten
entspricht Die Elephantenuhr den an einen Roman gestellten
Mindestanforderungen. Mehr noch, das Werk realisiert einen bestimmten Typus der
Gattung. Von den ersten beiden, durch volle und mittlere Satzbreite
charakterisierten Textsträngen, die Lorchs Bericht sowie die Tonbandabschriften
seiner Gespräche und Monologe umfassen, hebt sich durch geringe Satzbreite ein
dritter Textstrang ab, der eine große Selbständigkeit aufweist. Er enthält in
der Form einer Er-Erzählung die fragmentarische Geschichte des Gelehrten G.
Dieser blickt vom römischen Testacciohügel aus auf einzelne Stationen seines
Lebens zurück und vergegenwärtigt sich seine Erlebnisse und Erfahrungen in
Paris, Rom, Catania usw. Obwohl der G-Strang, was Zeit, Raum, Figuren und
Handlung betrifft, grundsätzlich vom anderen Handlungsstrang abweicht, gibt es
eine Verbindung zwischen beiden. Der Erzähler der G-Geschichte ist nämlich der
Held und Erzähler des ersten Stranges, Gustaf Lorch, der Teile aus dem
Manuskript über seine Obsessionsfigur dem Bericht über sich selber beifügt.
Die Elephantenuhr zeigt somit die typischen Merkmale des Doppelromans: zwei
weitgehend selbständige Haupterzählstränge, Duplikation der Zeit-Raumstruktur
und der Personen, personale Abhängigkeit des einen Stranges von dem anderen und
schließlich korrelative Verknüpfung der beiden Hauptstränge, so dass sich die
Vorgänge ineinander spiegeln.
Obwohl der Ausspruch der Kritik, Die Elephhantenuhr sei kein Roman,
durch das Vorhandensein dieser Strukturkomponenten entkräftet wird, ist der
Zweifel am Romancharakter aus verschiedenen Gründen verständlich. Am
auffallendsten ist die Tatsache, dass der normale Handlungsverlauf mit
nicht-erzählenden Partien essayistischer und lyrischer Art durchsetzt wird. Die
eigentliche Geschichte, die Entfaltung äußeren und inneren Geschehens, erfüllt
nur noch eine untergeordnete Funktion und büßt für die Interpretation ihre
normalerweise primäre
Relevanz ein. Im Lorch-Strang überwiegen reflexive, erörternde Partien, die sich
durch das Anliegen des Helden, die Vorbereitung einer umfassenden semiologischen
Ausstellung, legitimieren. Durch den universalen Charakter seines
Semiologiebegriffs wird Lorch gleichsam alles, auch die Geschehnisse seines
Alltags- und Privatlebens, zum Gegenstand der Reflexion. Die meisten Figuren
erscheinen nicht als handelnde oder erlebende, sondern als redende und denkende
Wesen. Geschehnisse (so die Liebesnacht mit Katharina, die Fahrt auf der
Autobahn, der Flug Berlin-Frankfurt) fungieren als auslösendes Moment für
weitere Reflexionen, die oft sogar den Charakter wissenschaftlicher
Darstellungen annehmen. Der G-Strang stellt in gewisser Hinsicht das Gegenbild
zum anderen Erzählstrang dar. Der ausgedehntere Zeitraum und der große
Erfahrungsbereich des Weltreisenden G bergen die Möglichkeit ereignisreicher
Geschichten in sich. Solche kommen auch vor, denken wir an den Vorfall mit dem
Affen Ciocco oder die Präsidentenwahl. Meistens jedoch bleiben kausale
Geschehensabläufe im Ansatz stecken, werden überblendet durch Erinnerungsbilder,
Dialogfetzen, Vorstellungen und Gedanken. Dieser Verzicht auf das Erzählen, das
Durchsetzen und bisweilen der Ersatz der Fabel durch Reflexion und
Momentaufnahmen lösen das herkömmliche Romanschema auf.
Hinzu kommt die Umwerfung des hierarchischen Stellenwerts einiger Komponenten.
Bestandteile, die traditionell eine unterstützende Funktion im Roman haben,
werden aus der Abhängigkeit vom Hauptgeschehen emanzipiert. Psyhologie z.B.
begegnet weniger in der Gestaltung der auftretenden Fuguren als vielmehr
explizite in gesonderten Einzelnotizen und Analysen wie etwa im Ehemodell von
Anna und Tadäus Kraut (246ff), das an sich einen kondensierten psychologischen
Roman bildet. Im G-Strang gewinnen Momentaufnahmen, Wetterschilderungen und
Wirklichkeitsausschnitte eine Bedeutung für sich, ohne dass sie mit der Lage der
Figuren in einer direkt sinnfälligen V (eerbindung stehen.
Im Unterschied zur klassischen Romanstruktur mit den klar konturierten, oft
kontrastierenden Gestalten wird in der Elephantenuhr die
Selbständigkeit der Figuren abgebaut. Nicht nur haben die wichtigsten Figuren
des Lorch-Stranges einen Doppelgänger im G-Strang, wobei die Parallelen schon im
Namen zum Ausdruck kommen (Vollname gegenüber Schrumpfform), – es findet sich
zwischen fast allen Figuren des Romans eine bemerkenswerte Promiskuität der
Erfahrungen und
Ideen. Eine Gestalt rückt mit Gedanken heraus, wie sie eine andere schon im
selben Sinn geäußert hat. Mehrere Figuren – so vor allem Lorch, G, Dr. Preuss,
Ipkin, Praudszus und der alte Storch – bekunden ähnliche Nöte, Wünsche ud
Vorstellungen, andere haben entsprechende Erlebnisse.
Ein letzter Faktor, der der herkömmlichen Romanvorstellung zuwiderläuft,
betrifft das Verhältnis Fiktion – Realität. Die üblicherweise sich durch Fiktion
von der Realität abkapselnde, möglichst geschlossene Romanwelt wird in der
Elephantenuhr gerade durch dieHereinnahme einzelner Realien eng mit der
gegenwärtigen Wirklichkeit verbunden und somit entfiktionalisiert. Diese
Wirklichkeitsnähe äußert sich in de Räumlichkeiten des Romans, die fast
ausnahmslos eine reale Entsprechung haben weiter in der Erwähnung realer
Personen, Institutionen und Ereignisse, schließlich in der Übernahme
vorgefundenen Sprachmaterials (Inschriften, Verordnungen, Schlagerfetzen, Presse-
und Funkmeldungen usw.).
Es hat sich gezeigt, dass der Elephantenuhr (entgegen der Behauptung
mancher Kritiker) ein traditionelles Romanschema zugrundeliegt, dass aber
zugleich durch den Verzicht aufs Erzählen, durch den Ersatz der Fabel durch
Reflexion, durch Schwerpunktverschiebung in der Komposition, durch den Abbau der
eigenständigen Romanfigur und durch Entfiktionalisierung im Buch selber
gesprengt wird. Zu fragen ist, wie es zu der Auflösung der traditionellen
Romanbegriffs kommt, woher sie sich legitimiert.
1971 legte Richard Salis einer Reihe von Autoren die Frage vor: "Warum schreiben
Sie?" Walter Höllerer gab seinem Beitrag zu der daraus hervorgegangenen
Anthologie Motive (Tübingen 1971, S. 157f) den programmatischen Titel "Schreiben
gegen die Zensur". Dieser Text, der fast vollständig im Roman wiederkehrt
(466ff), ist besonders aufschlussreich in bezug auf die Intention des Autors
beim Schreiben der Elephantenuhr. Höllerers Antrieb zum Schreiben, so
fällt gleich auf, ist kein ästhetischer, sondern ein ethischer. "Was trägt das
bei zum Weiterleben, zur Glücksvermehrung..." fängt der Text an und geht weiter:
"Ich schreibe, weil ich kein anderes Mittel weiß gegen die Zensur, die uns mit
anonymen Mitteln unter dem Daumen hält". Unter Zensur ist dabei nicht das
moralisch-politische Verbot von Amts wegen zu verstehen, sondern vielmehr eine
Selbstzensur, die entsteht aus Rücksicht gegenüber den herrschenden Meinungen,
schon beim Denken anfängt und sich beim Formulieren in der Öffentlichkeit
verstärkt. Literatur könne demgegenüber eine befreiende Wirkung haben, indem sie
unbeschränkt ausspricht, was sonst verschwiegen wird.
Schreiben für die und mit denen, denen
das Wort abgeriegelt wird in einer
immer mehr zugedeckten, zensierten Welt, und so, wie
wir uns anstrengen,
Welt und Atom zu erfassen, sollten wir uns nicht
scheuen, uns selbst und unsere
Soziabilität mit ihren Verwicklungen zu erfassen,
Augen, Nasen, Münder,
Ohren, und wie sie verletzt werden.
Dazu sei allerdings auch Misstrauen vonnöten gegen die durch das
Medium Literatur im Laufe der Tradition entwickelte Zensur, soweit sie
hermetisch-elitär gewordene Kategorien wie die des Helden hervorgebracht hat.
Also Schreiben, an die Stelle von Helden
Leute setzen. Immer wieder an die
Stelle von stilisierten, zurechtzensierten Helden Leute
setzen, ob nun in Prosa
oder Dialog oder Versen oder in der Unterhaltung, in
Analysen, in einer nicht
eng begrenzten Literatur, die in den Alltag
hineinreicht, die in Politik und
Wissenschaft übergeht, ein neuer Literaturbegriff.
Damit wird die Literatur zu einem Freitraum, in dem Erkenntnisleistung
und Wirkungsmöglichkeit das in sich ruhende Sprachkunstwerk, Doderers "roman
muet", ablösen.
Es liegt auf der Hand, dass der traditionelle Romanbegriff der Realisierung
einer solchen literarischen Intention im Wege steht. Das Geschichten-Erzählen
als Hauptaufgabe des Romans hat schon eine so lange Tradition hinter sich, dass
eine wirksame neue Erzählung nur durch die Erfindung immer ausgefallener
Enzelschicksale und
schreibtechnischer Raffinements zustandekommen kann. Dadurch entfernt sich das
Werk aber stets weiter von der Realität und wird für den Leser letztlich
unverbindlich. Höllerer hat wohl die Gefahr einer derartigen literrischen
Entwicklung eingesehen, als er sich entschloss, die Ende der fünfziger Jahre
entstandene erste Fassung der Elephantenuhr – ein ins
Surrealistisch-Verschrobene hinein fiktionalisiertes Psychogramm – nicht zu
veröffentlichen, weil ihm (so eine mündliche Mitteilung) "daran die Realität
fehlte". Der Roman selbst thematisiert an verschiedenen Stellen die Absage ans
unverbindliche Fabulieren. So sagt Lorch einmal: "Ich wünsche mir das
Ungeschoren-werden-lassen von Trugbildgestalten. Insbesondere die Verhinderung
der Verlebendigung von erfundenen Personen." (133) Und G: "Ach, erzählen
willst du! (...) Geschichten! Geschichten! Als ob die kurz aufleuchtenden
Vorgänge, jetzt, nicht aufschlussreicher wären, als das abgeschliffen Gestapelte
im Lang-Zeit-Gehirn!" (297)
Diese nahezu anti-literarische Haltung wird nicht um ihrer selbst willen
eingenommen, sondern zu dem Zweck, den Roman für die veränderte, komplexer
gewordene Realität zu öffnen, also von der Forderung eines zeitgemäßen Realismus
her. Da aber das bloße Abbilden von Realität allein schon deshalb fragwürdig
geworden ist, weil die heutige Realität zum großen Teil eine vermittelte ist,
beschäftigt sich der Autor mit den Voraussetzungen des – erkennenden wie
handelnden – Zugangs zur Wirklichkeit. Diese Auseinandersetzung findet nicht in
Analysen oder Erklärungen außerhalb des Werkes, sondern im Roman selber statt.
In der Elephantenuhr wird sie konkret demonstriert in Gustaf Lorchs
Arbeit an einer Semiologie, die nicht mit einer technisch-wissenschaftlichen
Zeichenlehre gleichzusetzen ist, vielmehr ein umfassendes Erkenntnis- und
Kommunikationssystem bildet. Indem die Semiologie freilich von Zeichen
sprachlicher und nicht-sprachlicher Art ausgeht, ermöglicht sie Höllerer, sowohl
existierende, sprachlich fixierte wissenschaftliche Erkenntnisse und
ideologische Ansichten einzubeziehen und gegebenenfalls zu kritisieren wie auch
neue Bereiche zum Gegenstand der Reflexion zu machen.
Gegenüber der etablierten Wissenschaft hat ein derartig erweiterter Roman den
Vorteil, sich über die durch rigorose methodologische Forderungen und strikte
Trennung der Objektbereiche entstandene Einseitigkeit – schon durch die
subjektive Auswahl des Autors – hinwegsetzen zu können. Da er nicht eine
bestimmte Darstellungsweise, sondern alle bestehenden Gattungsformen (wie Essay,
Dialog, Erzählung, lyrische Momentaufnahme) ins Spiel bringt, vermag er außerdem
die reflexive Erkenntnis mit direkter Wirklichkeitswiedergabe zu konfrontieren.
Die Darstellung des Alltags, der gemeinhin als nicht erzählenswert gilt, bekommt
hier, besonders im Ausspielen gegen Ideologie, eine wichtige Rolle. Dadurch,
dass nicht die erfundene private Problematik einiger Figuren erzählt wird,
sondern die Problematik der Figuren die universelle zeitgenössische Problematik
wiedergibt, wird der Roman ungemein verbindlich. Die fundamentale Fragestellung,
die verringerte Distanz zwischen Romanwelt und realer Wirklichkeit und die
weitgehende Identifikation zwischen Autor, Erzähler, Romanfigur und Leser
verhindern, dass die Botschaft des Romans in seinem Kampf gegen die Zensur als
"doch nur Literatur" entschärft wird.
Die Gefahr der Abstraktion und des Monologischen, die der im Roman betriebenen
"Grundlagenforschung" anhaften könnte, hat Höllerer auf mehrfache Weise
vermieden. Er behält die Romanform bis zu einem gewissen Grade bei, um die
behandelten Probleme und Lösungen als von Menschen in deren unerschöpften
Widersprüchen erlente vorzuzeigen. Der Erklärungsanspruch der
Reflexionsergebnisse wird noch stärker dadurch herausgefordert und relativiert,
dass der Autor an zahlreichen Stellen Momente von intensivem Wirklichkeitsgehalt
evoziert. Gefundene Texte, Geschehnisse, Phantasiebilder und Hintergrundfiguren
wie die Elephanten stehen in erster Linie für sich da, als Zeugnisse der
Realität, ohne dass sie eine weitere symbolische Funktion im Roman erfüllen.
Gerade diese Dimension macht die Bedeutung des G-Stranges gegenüber dem
reflexiver und diskursiver entwickelten Lorch-Strang aus. Der
Literaturcharakter, den Die Elephantenuhr trotz aller
Grenzüberschreitungen nicht verleugnen kann, wird einerseits durch eine Fülle
von literarischen Anspielungen und Zitaten bewusst gemacht, andererseits wieder
aufzuheben versucht durch einen Sprachgebrauch, der sich an der mündlichen Rede
orientiert. Zwischen Reflexion und Leben, Fiktion und Realität hin- und
herschwingend, erreicht Die Elephantenuhr so die angestrebte Synthese
einer sinnlichen Erkenntnis.
Abschließend erhebt sich die Frage, inwieweit es Vorbilder und Parallelen für
die der Elephantenuhr zugrundeliegende Erweiterung des Romanbegriffs
gibt. In der Geschichte des deutschen wie europäischen Romans lassen sich schon
früh bei verschiedenen Autoren Versuche zur Sprengung des festgelegten
Erzählschemas beobachten. Erinnert sei an die Tradition des enzyklopädischen
Romans, in dem Bildungsstoff und Reflexion über das Normalmaß hinaus
selbständige Bedeutung gewinnen, von der Geschichtsklitterung Johann
Fischarts (selbst ein Nachfolger von Rabelais), über die großen Romane von
Laurence Sterne und Jean Paul bis zu James Joyce's Ulysses. Friedrich
Schlegel forderte 1798 eine romantische "Universalpoesie", die nicht nur "alle
getrennten Gattungen der Poesie wieder vereinigen" sondern auch "die Poesie mit
der Philosophie und Rhetorik in Berührung setzen" sollte. Sein eigener, Fragment
gebliebener Roman Lucinde, der so gut wie keine Handlung besitzt, ist
eine Mischform aus Phantasien, Reflexionen, Briefen und Aufzeichnungen. Heine
löste in seiner Prosa die Trennung zwischen den Gattungen weiter auf und
relativierte das herkömmliche Erzählen durch die Einblendung von
Wirklichkeitsmomenten und Reflexionspartikeln. Der erkenntnistheoretische
Anspruch, den Autoren wie R. Musil, H. Broch und Th. Mann im 20. Jahrhundert an
die Gattung stellten, hat die Verwissenschaftlichung und objektivierende
Darstellung des Romans eingeleitet. All diesen Versuchen ist aber gemeinsam,
dass sie den Kunstcharakter des Romans als eines von der Realität abgehobenen
ästhetischen Gebildes beibehalten.
Für die festgestellte Sprengung der Grenze zwischen Literatur und Leben,
Illusion und Realität findet sich ein wichtiges Vorbild außerhalb der Literatur
beim Vater der Anti-Kunst, bei Marcel Duchamp. Duchamp verzichtete auf die
traditionell vom Künstler erwartete Fortbringung ästhetischer Gebilde mit
kanonisierten (Mal- oder Bildhauer-) Mitteln, indem er mit seinen Ready-mades
anstelle von Kunstobjekten reale, jedem geläufige Gebrauchsgegenstände
präsentierte. Er hat dadurch den Schritt vollzogen von einer emotionalen,
illusionistischen Kunst zu einer mentalen, die den Betrachter nicht ein
subjektives Abbild der Wirklichkeit anschauen lässt, sondern ihn zur Reflexion
über die Realität selber bringt. Das direkte Darbieten von Realität, gerade auch
der alltäglich gelebten, als Auslöser von Bewusstseinsprozessen beim Leser
istauch das Vorhaben der Elephantenuhr. Die Bemühungen der Hauptfigur
konzentrieren sich nicht ohne Grund auf eine Ausstellung, in der die Besucher
ihre eigene Umwelt wiederfinden sollen. An einer Stelle im Roman beschreibt
Höllerer die Wirkungsabsicht eines Exponats sogar mit einem Zitat von Edward
Kienholz zu einem der konzeptuellen "Tableau"-Assemblagen (The God Box,
1963): "Gedanken über organisierte Religionen anzuregen und darüber, was sie der
Zivilisation angetan und was sie für sie getan haben." (129f)
Die Erweiterung des Romanbegriffs, die durch den Abbau der fiktiven Geschichte
und die Öffnung zur Wissenschaft und zum Alltag hin eine radikal)kritische
Problemstellung ermöglicht, bleibt in der deutschen Gegenwartsliteratur nicht
auf Walter Höllerers Elephantenuhr beschränkt. Vielmehr liegt sie als
unterschwellige Tendenz verschiedenen Romanen der letzten zehn Jahre zugrunde,
wenn sie auch auf unterschiedliche Weise literarisch zum Ausdruck kommt. Zwei
solcher Möglichkeiten seien zum Schluss kurz angedeutet. In Oswald Wieners 1969
erschienener die verbesserung von mitteleuropa, roman sind Handlung und
Figuren in einige reservathafte Erzähleinschübe zurückgedrängt, die die
aphoristisch-essayistisch fortschreitende Reflexionsprosa kaum unterbrechen. Das
Ritual einer wissenschaftlichen Abhandlung parodierend, polemisiert Wieners
Roman gegen die Organisation der Wirklichkeit durch die Sprache, die nicht nur
authentisches Leben und Denken verhindert, sondern auch das Individuum durch den
gesellschaftlichen Kommunikationszwang normiert und somit unterdrückt. Der Autor
vermittelt diese Erkenntnisse nicht auf dem Umweg einer auf eine Botschaft hin
zu entschlüsselnden Geschichte, sondern indem er von sich aus den Leser
unmittelbar anspricht und die gemeinsame Problematik explizite analysiert.
Wieners weitgehender Verzicht aufs Romanhafte, kombiniert mit der ungemein
intensiven, anarchischen Reflexion, dürfte in seiner Radikalität das Limit
dieser Tendenz darstellen.
Weniger extrem, dafür durch ihre Lesbarkeit publikumswirksamer sind die letzten
Romane des Grazer Autors Helmut Eisendle. In seinem 1976 veröffentlichten Roman
Jenseits der Vernunft oder Gespräche über den menschlichen Verstand
gibt es Personen, Örtlichkeiten und eine, wenngleich geringe, Fabel. Wie bei
Höllerer wird die Handlung oft durch Dialoge und Reflexionen ersetzt. Die
vorgeführte Fiktion von den beiden Freunden Schubert und Estes, die sich auf
Urlaub an der Mittelmeerküste über die Schwierigkeiten ihrer Existenz und ihr
Unbehagen an den Systemen unterhalten, ist aber nur Schein. Die auf den ersten
Blick fiktive Geschichte erweist sich als Vorwand, die zufällige, individuelle
Problematik der Figuren wird zu einer typischen, allgemeingültigen – Autor wie
Leser gleichermaßen betreffenden – Bestandsaufnahme. Damit lässt sich auch im
traditionell erzählenden Roman die Ausweitung zurückfinden, die sich bei
Höllerer deutlich an der Oberfläche der Romanform manifestiert. Die Sprengung,
von der hier die Rede war, hat – so zeigt sich – auch den scheinbar unberührt
gebliebenen Roman erschüttert.
Erik de Smedt
In: Duitse kroniek, Jg. 31 Nr. 1 (April 1980), S.
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