Goethe, "Das Göttliche"

Johann Wolfgang von Goethe wurde 1749 in Frankfurt a.M. geboren. Er gilt als der größte deutsche Schriftsteller und war ein wirklicher Universalgeist: Dichter, Romanautor (Wilhelm Meisters Lehrjahre, 1796), Theaterautor (Tasso, 1790; Faust, 1808/1832), Naturforscher (Farbenlehre) und Minister in Weimar. Goethe starb 1832.

Goethe gemalt von H. Chr. Kolbe


Die Leiden des jungen Werthers
(1774), ein Kultbuch des 18. Jahrhunderts, wurde zum Schlüsselroman des Sturm und Drang (1767-1785), einer jugendlichen literarischen Protestbewegung, in der die Subjektivität sich ausleben soll (vgl. das Gedicht Prometheus). Held des Romans ist ein junger Mann, der eine verheiratete Frau liebt und an dieser Liebe festhält. Wenn er sein Ziel nicht erreichen kann, begeht er Selbstmord. Um 1770 beginnt Goethe ‘Erlebnislyrik’ zu schreiben, Gedichte, denen persönliche Erlebnisse zu Grunde liegen, die zu allgemeinen Aussagen erweitert werden (vgl. Wandrers Nachtlied). Goethes Erlebnislyrik prägt die deutsche Natur- und Liebeslyrik bis weit ins 19. Jh. hinein und bestimmt noch heutzutage das landläufige Verständnis von Lyrik (Lyrik = Ausdruck von Gefühlen).

1786 machte Goethe seine erste Reise nach Italien. Dort lernte er mit eigenen Augen die Antike (bzw. deren Überreste) kennen, sie wurde von da an zu seinem entscheidenden Vorbild. Die Klassik (1786-1832) bewundert das griechische Humanitätsideal (das Gute, Wahre, Schöne). Alle menschlichen Kräfte sollten ausgebildet werden (Totalität) und zusammen eine ausgewogene Einheit bilden (Harmonie). Diese Epoche ist sehr idealistisch: Durch die Beschäftigung mit der Kunst sollten die Menschen allmählich dem Idealzustand angenähert werden. Das Niveau der Dichtung ist überhöht, der Stil erhaben. In der bildenden Kunst (‘Klassizismus’) wird die Kunst der Antike nachgeahmt, für die der Kunsthistoriker J.P. Winckelmann die Charakteristik "edle Einfalt und stille Größe" geprägt hat.

Das Göttliche          

Edel sei der Mensch
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet ihn
Von allen Wesen,
Die wir kennen.

Heil den unbekannten
Höhern Wesen
Die wir ahnen!
Ihnen gleiche der Mensch!
Sein Beispiel lehr uns
Jene glauben.

Denn unfühlend
Ist die Natur:
Es leuchtet die Sonne
Über Bös und Gute
Und dem Verbrecher
Glänzen wie dem Besten
der Mond und die Sterne.

Wind und Ströme,
Donner und Hagel
Rauschen ihren Weg
Und ergreifen
Vorüber eilend
Einen um den andern.

Auch so das Glück
Tappt unter die Menge,
Faßt bald des Knaben
Lockige Unschuld,
Bald auch den kahlen
Schuldigen Scheitel.

Nach ewigen, ehrnen,
Großen Gesetzen
Müssen wir alle
Unseres Daseins
Kreise vollenden.

Nur allein der Mensch
Vermag das Unmögliche:
Er unterscheidet,
Wählet und richtet;
Er kann dem Augenblick
Dauer verleihen.

Er allein darf
Den Guten lohnen,
Den Bösen strafen,
Heilen und retten,
Alles Irrende, Schweifende
Nützlich verbinden.

Und wir verehren
Die Unsterblichen,
Als wären sie Menschen,
Täten im großen,
Was der Beste im kleinen
tut oder möchte.

Der edle Mensch
Sei hilfreich und gut!
Unermüdet schaff er
Das Nützliche, Rechte,
Sei uns ein Vorbild
Jener geahneten Wesen.


Fragen zum Gedicht

1. Welchen Zusammenhang mit der Antike zeigt die äubere Form des Gedichts?

2. Warum heißt das Gedicht über den Menschen Das Göttliche?

3. Was ist der Unterschied zwischen der Natur und dem Menschen?

4. Verbinden Sie die folgenden Begriffe mit der passenden Strophe:

  • der Mensch bringt Ordnung ins Chaos
  • das Antropomorphe des Götterbilds
  • die Naturgewalt als Metapher
  • die Zirkelstruktur
  • "der Mensch ist etwas Größerem unterworfen"
  • die Indifferenz der Natur
  • der Mensch vermag ‘kritisch’ zu sein, d.h. zu unterscheiden
  • Fortuna, der Zufall
  • durch den guten Menschen entsteht der Glaube an die Götter.

5. Beweisen Sie: Goethe ist in diesem Gedicht idealistisch, aber nicht naiv.



Näheres zu Goethe: Goethe Lebenslauf

Auswahl von Goethe-Gedichten

 


terug naar homepage