grenznah. interpretation eines gedichts von erich arendt

Grenznah

Wie Tasten traumschwarz
ihre Schalen
öffnete
die Muschel
schnappt zu und
was das Meer verschwieg,
schmerzend es wächst
innen, ein
Lüstern
nach Haut:
das Sandkorn. ---

Der im Verdorrten
lebte,
sonnharter Tag, hohl
überm Stachlichten,
hämmernd
die Leere, er trägt
in diesem räudigen Land,
wo nicht einmal
Tod ist,
rosenhell
eine Blüte. ---

Die zusehn: wo
wollüstige Hand
den Totgepfeilten,
den Kraken, zerschlägt,
hochausholend
ihm gibt
den zweiten Tod.
Wie lose
auf den Leibern doch
die Köpfe!

[Erich Arendt, Starrend von Zeit und Helle.
Gedichte der Ägäis.
Carl Hanser Verlag,
München 1980, S. 124]

Dem äußeren Aufbau nach ist das Gedicht ein Triptychon. Die drei durch einen Strich getrennten Teile sind selbständiger als Strophen, der Einfachheit halber seien sie trotzdem als Strophen bezeichnet. Sie bestehen aus zweimal elf, einmal zehn Zeilen, jede Strophe fällt mit einem komplexen Satz zusammen, die dritte schließt außerdem mit einem verblosen Ausruf. Auffallend sind die kurzen, gebrochenen Zeilen, die die Syntax zugunsten des Einzelworts auflösen. Das Sprechen selbst erscheint schmerzend: Das Benennen wird durch Vergleich und Inversion verlangsamt, die Umschreibung dem direkten Aussprechen vorgezogen.

Abstrahiert man von der Sprechweise, so lässt sich für jede Strophe ein Geschehen nacherzählen. In der ersten Strophe ist der sich im Meer, genauer: auf dem Meeresboden abspielende Vorgang der Perlbildung erkennbar; eine Muschel nimmt ein Sandkorn in sich auf, das zum Kern einer langsam wachsenden Perle wird. Die zweite Strophe führt in eine dürre südliche Landschaft, wo eine stachlige Pflanze, ein Kaktus, eine Blüte trägt. Der in der dritten Strophe dargestellte Vorgang bringt dann die Räumlichkeiten der ersten und zweiten zusammen und dürfte sich am Strand oder in einem kleinen Hafen ereignen: Fischer köpfen einen Kraken (einen Oktopus), den sie vorher erschossen haben.

Muschel Kaktus Krake

Drei Vorgänge aus der Natur, zweimal ohne menschliche Anwesenheit, es sei denn eine nicht-beschriebene wahrnehmende, - in der dritten Strophe hingegen ist der Mensch als Wahrnehmender und Handelnder da. Das ist nicht der einzige Unterschied zwischen den ersten beiden und dem letzten Teil. In den ersten beiden Strophen kommt eine positive Bewegung zum Ausdruck, die Erschaffung von Schönheit und Leben, um so auffallender, je leerer und dürftiger die beschriebene Umgebung ist. In der dritten Strophe wird diese uns emotional erfreuende Bewegung auf den Kopf gestellt. Der Vorgang verwandelt nicht länger Unedles in Edles, Trostloses in Hoffnungsvolles, sondern bestärkt die negative Ausgangslage: Das getötete Tier wird zum zweiten Mal getötet, und die Verse betonen die Negativität, indem sie das zweite Geschehen zweifach benennen: "den Kraken, zerschlägt, / hochausholend / ihm gibt / den zweiten Tod." Der darauf folgende Ausruf, eine Klage über die Zerbrechlichkeit, Vergänglichkeit, bezieht sich auf die Weichtiere, aber zugleich auf das Subjekt des unausgeführten Anfangssatzes dieser Strophe, auf die Menschen, "die zusehn", - und das sind beim Lesen wir alle.

Der Befund, dass Zerstörung die dritte Strophe und Schöpfung die ersten beiden Strophen beherrscht, tut dem viel differenzierteren Gedicht aber Unrecht an. Nicht Eindeutigkeit, sondern Ambivalenz kennzeichnet den Text auf einer tieferen Ebene. Die dargestellten Vorgänge sind so in ihr Gegenteil eingebettet worden, dass sie es als notwendige Bedingung vorauszusetzen scheinen. Bereits die ersten beiden Verben bringen Gegensätzliches zusammen: Ihr Subjekt, die Muschel, erscheint zwischen 'Öffnen' und 'Zuschnappen'. Der innere Vorgang, das schmerzende Wachstum des Sandkorns, scheint sich aus der Dürre der Außenexistenz herzuleiten. Das Sandkorn, Objekt und Opfer des Meeres ("was das Meer verschwieg"), unausgesprochenes Objekt der sich schließenden Muschel auch, wird zum Subjekt, das als Perle ("ein / Lüstern / nach Haut") die schwarze Muschel in glänzender Schönheit übersteigen wird - wie den Tasten des Klaviers Musik entspringt.

In der zweiten Strophe treten Kontrast und Ineinandergreifen der Gegensätze noch deutlicher zutage. Der gedehnten Beschreibung der bedrohlichen Umwelt, des unfruchtbaren Landes ("wo nicht einmal / Tod ist"), werden in vokalbetonter Prägnanz die letzten beiden Zeilen "rosenhell / eine Blüte" entgegengesetzt. Aber auch hier erscheint das Schönheit erzeugende Subjekt von seinem Gegenteil umschlossen, scheint Fruchtbarkeit Unfruchtbarkeit vorauszusetzen: der Kaktus "lebt" "im Verdorrten", er "trägt" im "räudigen Land" eine "rosenhell(e)" "Blüte". Und wie das Sandkorn wird der Kaktus von den ihn umgebenden Elementen zugleich bedroht und gefördert: "sonnharter Tag", "hämmernd / die Leere".

Selbst in der letzten Strophe, wo Tod und Vergänglichkeit vorherrschen, wird die das Tier zerschlagende Hand als "wollüstige" bezeichnet - ein Hinweis auf Vitalität, der durch die Dynamik der Verbformen 'totgepfeilt', 'zerschlägt' und 'hochausholend' ergänzt wird. Enzyklopädisches Wissen über den Kraken festigt die im Laufe des Gedichts erschienene Annäherung von Leben (als Liebe und Schöpfung verstanden) und Tod. Das Tier, das hier den Tod findet, gilt als der Aphrodisischeste der Fische. Wenn man will, lässt sich die Bewegung, die "den zweiten Tod" herbeiführt und mit den Worten "wollüstige Hand / [...] hochausholend" charakterisiert wird, als Pendant jener Bewegung interpretieren, die der Krake mit seinem Hektokotylus, einem zur Übertragung des Samens umgestalteten Fangarm, bei der Begattung ausführt. Sexuelle Konnotationen schwingen übrigens im ganzen Gedicht mit (die Muschel als Vulva, die Blüte als Fortpflanzungsorgan).

"Grenznah" heißt dieser Text: Das ist ein zugleich weit fortgeschrittener und verhaltener Standort. In dreifachem Anlauf tastet sich das Gedicht an ein Geheimnis heran, in der Beschreibung der Natur vor ihm innehaltend: Eros und Thanatos komplementär, zwei Seiten einer Wirklichkeit, "traumschwarz".
 

Erich Arendt

* Die Interpretation entstand anlässlich einer Lesung Erich Arendts (1903-1984) an der Universität Antwerpen (UIA) im Frühjahr 1980.






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