Georg Trakl, "Kaspar Hauser Lied"

Kaspar Hauser ist ein berühmter 'Fall' aus dem 19. Jahrhundert. 1828 tauchte er als 16-jähriger Findling auf dem Marktplatz in Nürnberg auf. Er konnte kaum laufen oder reden. Er sagte nur einen Satz: "Ich will ein solcher Reiter werden, wie mein Vater einer war." Er hatte einen anonymen Brief dabei, in dem stand, dass er aufgewachsen sei in einem dunklen, niedrigen Raum, und dass man sich nicht länger um ihn kümmern könne. Es gab großes Interesse für ihn von pädagogischer Seite. Dank der Hilfe eines Gymnasialprofessors lernte Kaspar laufen, sprechen, lesen und schreiben... 1829 wurde ein erster Mordanschlag an ihm versucht. 1833 wurde er, 21 Jahre alt, von einem Unbekannten durch Messerstiche ermordet. Er soll ein außerehelicher Sohn des Großherzogs Karl von Baden gewesen sein, der wegen einer Erbfolge-Affäre verstoßen, gefangengehalten und schließlich ermordet wurde.

Die Figur Kaspar Hauser erregte zu seinen Lebzeiten und mehr noch nach seinem gewaltsamen Tod die Gemüter in Europa. Dichter und Schriftsteller ließen sich von ihm inspirieren: Paul Verlaine (Gaspard Hauser chante ("Priez pour le pauvre Gaspard")), Jakob Wassermann (Roman Caspar Hauser oder die Trägheit des Herzens), Georg Trakl und in unserer Zeit Peter Handke (Kaspar) und der Filmemacher Werner Herzog (Jeder für sich und Gott gegen alle). Die amerikanische Sängerin Suzanne Vega schrieb 1987 über ihn ihren Song Wooden Horse (Interpretation), Reinhard Mey das Lied Kaspar. Kaspar Hauser erinnert an Rousseaus Bild des 'edlen Wilden' ('le bon sauvage'): der von Natur unverdorbene, reine Mensch, der an der bösen Gesellschaft zugrundegeht. Er wurde ein moderner Mythos.


Georg Trakl
 

Kaspar Hauser Lied            
Für Bessie Loos

Er wahrlich liebte die Sonne, die purpurn den Hügel hinabstieg,
Die Wege des Walds, den singenden Schwarzvogel
Und die Freude des Grüns.

Ernsthaft war sein Wohnen im Schatten des Baums
Und rein sein Antlitz.
Gott sprach eine sanfte Flamme zu seinem Herzen:
O Mensch!

Stille fand sein Schritt die Stadt am Abend;
Die dunkle Klage seines Munds:
Ich will ein Reiter werden.

Ihm aber folgte Busch und Tier,
Haus und Dämmergarten weißer Menschen
Und sein Mörder suchte nach ihm.

Frühling und Sommer und schön der Herbst
Des Gerechten, sein leiser Schritt
An den dunklen Zimmern Träumender hin.
Nachts blieb er mit seinem Stern allein;

Sah, daß Schnee fiel in kahles Gezweig
Und im dämmernden Hausflur den Schatten des Mörders.

Silbern sank des Ungebornen Haupt hin.




Caspar Hauser

Fragen zu Trakls Gedicht

1.   Aus welchen Textstellen kann man ableiten, dass es sich um die historische Figur Kaspar Hauser handelt?

2.  Warum nennt Trakl Kaspar den 'Ungeborenen'?

3.  Nach Trakls Tod verfasste ein Arzt die folgende Krankheitsgeschichte über ihn. Welche Parallelen gibt es zwischen Trakl und Kaspar Hauser?

"Als Kind versuchte er sich selbst zu töten. Zum ersten Mal als 5jähriges Kind in's Wasser gesprungen. Das letzte Mal im Frühjahr laufenden Jahres. Sonst 'vollkommen gesund' [...] Gut gelernt. Studium ohne Schwierigkeiten. Gedient 1908. Während der Mob.[ilmachung] freiwillig gemeldet. Eingerückt am 1. August [...] Seit Jahren schon leidet er zeitweise an schweren psychischen Depressionen mit Angstzuständen, dann fängt er an stark zu trinken, um sich von dieser Angst zu befreien. Seit seiner Kindheit schon hat er zeitweise Gesichtshallucinationen, es kommt ihm vor wie wenn hinter seinem Rücken ein Mann mit gezogenem Messer steht. Von 12-14 Jahren hat er keine solchen Erscheinungen gehabt, jetzt seit 3 Jahren leidet er wieder an diesen Gesichtstäuschungen ausserdem hört er sehr oft Glockenläuten. Seinen Vater hat er nicht für eigenen gehalten, sondern er hat vermutet, dass er in Zukunft ein großer Herr wird."

4.  Trakl gehört zum (Land-)Expressionismus (1910-1925): wie der Stadtexpressionismus ist diese Richtung subjektiv und deformiert sie die Wirklichkeit. Im Gegensatz zum Stadtexpressionismus aber ist der Landexpressionismus positiv eingestellt: die Dichter träumen von einem neuen, 'natürlichen' Menschen, von einer Erneuerung der paradiesischen Unschuld in der Gesellschaft (vgl. in der niederländischen Literatur Paul van Ostaijen, Het Sienjaal). Man versucht durch Einfühlung und Abstrahierung das Wesen eines Menschen, eine innere Wirklichkeit auszudrücken. (Vgl. in der bildenden Kunst die Künstlergruppe Der blaue Reiter mit Kandinsky und vor allem Franz Marc, in Flandern De Latemse school.) Woran merkt man in diesem Gedicht, dass Trakl ein Landexpressionist ist?

5.  Wie interpretieren Sie Trakls eigenwilligen Gebrauch von Farbadjektiven?



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