Die
deutsche Nachkriegsliteratur Ende der 40-er, Anfang der 50-er Jahre wird
oft ‘Trümmerliteratur’ genannt. Dichter und Schriftsteller wie Günter
Eich, Wolfgang Borchert und Heinrich Böll setzten sich realistisch, in
einer einfachen, sachlichen Sprache mit dem Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen auseinander (vgl. im italienischen Film den Neoverismus). Groβe Worte und Gefühle wurden vermieden; die Sprache war
von den Nazis korrumpiert. Als Reaktion auf den Missbrauch der Ideale im
Nationalsozialismus herrschte ein totaler Ideologieverdacht. Man suchte
nach einer elementaren Menschlichkeit in einer entmenschlichten Welt.
Wolfgang Borchert wurde 1921 in Hamburg geboren. Er machte eine
Buchhändlerlehre, wurde 1941 als Soldat in Russland verwundet, kam wegen
Wehrkraftzersetzung ins Gefängnis und starb 1947 an den Folgen seiner
Kriegsverletzungen. Er schrieb Gedichte, kurze Prosastücke und
(ursprünglich als Hörspiel) das Heimkehrerdrama Drau βen vor der Tür (1947) über den Unteroffizier
Beckmann, der bei seiner Rückkehr aus Russland kein Zuhause mehr findet.
Die Rationierung von Lebensmitteln nach dem Krieg bildet den
historischen
Hintergrund der Geschichte Das Brot.
Das Brot
Plötzlich
wachte sie auf. Es war halb drei. Sie überlegte, warum sie aufgewacht
war. Ach so! In der Küche hatte jemand gegen einen Stuhl gestoßen. Sie
horchte nach der Küche. Es war still. Es war zu still, und als sie mit
der Hand über das Bett neben sich fuhr, fand sie es leer. Das war es,
was es so besonders still gemacht hatte: sein Atem fehlte. Sie stand auf
und tappte durch die dunkle Wohnung zur Küche. In der Küche trafen sie
sich. Die Uhr war halb drei. Sie sah etwas Weißes am Küchenschrank
stehen. Sie machte Licht. Sie standen sich im Hemd gegenüber. Nachts. Um
halb drei. In der Küche.
Auf dem Küchentisch stand
der Brotteller. Sie sah, dass er sich Brot abgeschnitten hatte. Das
Messer lag noch neben dem Teller. Und auf der Decke lagen Brotkrümel.
Wenn sie abends zu Bett gingen, machte sie immer das Tischtuch sauber.
Jeden Abend. Aber nun lagen Krümel auf dem Tuch. Und das Messer lag da.
Sie fühlte, wie die Kälte der Fliesen langsam an ihr hoch kroch. Und sie
sah von dem Teller weg.
"Ich dachte, hier wäre
was," sagte er und sah in der Küche umher.
"Ich
habe auch was gehört," antwortete sie, und dabei fand sie, dass er
nachts im Hemd doch schon recht alt aussah. So alt wie er war.
Dreiundsechzig. Tagsüber sah er manchmal jünger aus. Sie sieht doch
schon alt aus, dachte er, im Hemd sieht sie doch ziemlich alt aus. Aber
das liegt vielleicht an den Haaren. Bei den Frauen liegt das nachts
immer an den Haaren. Die machen dann auf einmal so
alt.
"Du hättest Schuhe anziehen sollen. So barfuß
auf den kalten Fliesen. Du erkältest dich
noch."
Sie sah ihn nicht an, weil sie nicht
ertragen konnte, dass er log. Dass er log, nachdem sie neununddreißig
Jahre verheiratet waren.
"Ich dachte, hier wäre
was," sagte er noch einmal und sah wieder so sinnlos von einer Ecke in
die andere, "ich hörte hier was. Da dachte ich, hier wäre
was."
"Ich habe auch was gehört. Aber es war wohl
nichts." Sie stellte den Teller vom Tisch und schnappte die Krümel von
der Decke.
"Nein, es war wohl nichts," echote er
unsicher.
Sie kam ihm zu Hilfe: "Komm man. Das war
wohl draußen. Komm man zu Bett. Du erkältest dich noch. Auf den kalten
Fliesen."
Er sah zum Fenster hin. "Ja, das muss
wohl draußen gewesen sein. Ich dachte, es wäre
hier."
Sie hob die Hand zum Lichtschalter. Ich
muss das Licht jetzt ausmachen, sonst muss ich nach dem Teller sehen,
dachte sie. Ich darf doch nicht nach dem Teller sehen. "Komm man," sagte
sie und machte das Licht aus, "das war wohl draußen. Die Dachrinne
schlägt immer bei Wind gegen die Wand. Es war sicher die Dachrinne. Bei
Wind klappert sie immer."
Sie tappten sich beide
über den dunklen Korridor zum Schlafzimmer. Ihre nackten Füße platschten
auf den Fußboden.
"Wind ist ja," meinte er. "Wind
war schon die ganze Nacht."
Als sie im Bett lagen,
sagte sie: "Ja, Wind war schon die ganze Nacht. Es war wohl die
Dachrinne."
"Ja, ich dachte, es wäre in der Küche.
Es war wohl die Dachrinne." Er sagte das, als ob er schon halb im Schlaf
wäre.
Aber sie merkte, wie unecht seine Stimme
klang, wenn er log. "Es ist kalt," sagte sie und gähnte leise, "ich
krieche unter die Decke. Gute Nacht."
"Nacht,"
antwortete er und noch: "ja, kalt ist es schon ganz
schön."
Dann war es still. Nach vielen Minuten
hörte sie, dass er leise und vorsichtig kaute. Sie atmete absichtlich
tief und gleichmäßig, damit er nicht merken sollte, dass sie noch wach
war. Aber sein Kauen war so regelmäßig, dass sie davon langsam
einschlief.
Als er am nächsten Abend nach Hause
kam, schob sie ihm vier Scheiben Brot hin. Sonst hatte er immer nur drei
essen können.
"Du kannst ruhig vier essen," sagte
sie und ging von der Lampe weg. "Ich kann dieses Brot nicht so recht
vertragen. Iss du man eine mehr. Ich vertrage es nicht so
gut."
Sie sah, wie er sich tief über den Teller
beugte. Er sah nicht auf. In diesem Augenblick tat er ihr leid.
"Du kannst doch nicht nur zwei Scheiben essen,"
sagte er auf seinen Teller.
"Doch. Abends vertrag
ich das Brot nicht gut. Iss man. Iss man."
Erst
nach einer Weile setzte sie sich unter die Lampe an den
Tisch.
Fragen zur Kurzgeschichte
1. Die Kurzgeschichte beschreibt einen Ausschnitt aus dem Alltag.
Sie fängt unvermittelt an (‘in medias res’) und dreht sich um ein einziges
Erlebnis, das geradlinig entwickelt wird. Die Wiedergabe ist szenisch und
benutzt die Dialogform. Es gibt einen pointierten Schlu β; die aufgeworfenen Probleme werden oft nicht gelöst.
Durch die prägnante Erzählweise wird das Geschehen seiner
selbstverständlichen Alltäglichkeit enthoben und erhält es tiefere
Bedeutung (die sogenannte ‘Transparenz’). Inwiefern lassen sich diese
Merkmale auf Das Brot anwenden?
2. Welche Erwartung hat man, wenn man den Anfang liest?
3. Worin äu βert sich die Kleinheit des
Mannes? Und die Seelengröβe der Frau?
4. Ist diese Geschichte veraltet? Warum (nicht)?
5.
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Interpretation
von Das Brot. |